Turm der Lügen
Jubelschrei um den Hals zu fallen, aber das wäre unmöglich gewesen. Zögernd blieb sie in der Tür stehen und wartete stumm, bis Jeanne sie hereinbat.
Unter halb gesenkten Lidern beobachtete sie Adriens Mienenspiel. Mit einem kurzen Blick nahm er sie flüchtig wahr, doch einen kaum messbaren Augenblick später sah er erneut in ihre Richtung. Seine Miene zeigte Verblüffung. Die beiden anderen Männer bemerkten seinen Blick und drehten sich mit unverhohlener Neugier zu ihr um.
»Ein neues Mitglied Eures Haushaltes, meine Liebe?«, wandte Philippe von Poitiers sich an seine Frau. Er verbrachte seine Tage hauptsächlich an der Seite seines Vaters. Weniger aus Zuneigung als aus Misstrauen gegenüber seinen Brüdern, wie Séverine schon bald den Erzählungen Jeannes entnommen hatte. Alle drei wetteiferten um das Wohlwollen des Königs.
»Séverine Gasnay ist meiner Obhut anvertraut«, erwiderte Jeanne ruhig. »Sie ist mir bereits ans Herz gewachsen.«
Philippe befriedigte die knappe Erklärung, wenngleich seine Augen prüfend zwischen beiden Frauen hin und her gingen.
Der dritte und jüngste der drei Männer beachtete Séverine nicht weiter, nachdem er ihr Erscheinen kurz zur Kenntnis genommen hatte. Er war kaum dem Knabenalter entwachsen, zart gebaut und von fast mädchenhafter Schönheit. Obwohl er einen juwelenbesetzten Dolch am Gürtel trug, machte er den Eindruck, man müsse ihn vor den Gefahren des Lebens schützen. Er kaute nervös an einem seiner Daumennägel, was ihn ein wenig verlegen wirken ließ.
»Sei unbesorgt, Robert«, wandte Philippe sich jetzt an ihn. »Deine Mutter ist in Saint Denis. Sie hat bestimmt nichts dagegen, dass du in Begleitung deines königlichen Schwagers deine älteste Schwester besuchst.«
Der Pfalzgraf von Burgund, schoss es Séverine durch den Kopf. Der unersetzbare Erbe Mahauts von Artois. Der junge Graf war erst dreizehn Jahre alt. Seine schmalen Schultern kamen ihr zu schwach vor für all die Würden und Erwartungen, die seine Mutter auf ihn lud. Armer Robert. Jeanne hatte des Öfteren von ihm erzählt. Am liebsten hätte sie ihn bemuttert wie ihre eigenen Kinder.
Jeanne legte auch jetzt einen schützenden Arm um den Knaben. »Willst du mit Séverine gehen und dir die jungen Jagdhunde im Zwinger ansehen? Sie sind prächtig gewachsen. Vielleicht möchtest du ja einen der Rüden haben? Séverine kann dir bei der Auswahl raten, sie versteht sehr viel von Tieren.«
Robert suchte mit einem Blick das Einverständnis seines Schwagers und warf Séverine ein scheues, gewinnendes Lächeln zu, bevor er zu ihr trat.
Trotzdem verließ Séverine den Saal an seiner Seite tief enttäuscht. Würde Adrien noch da sein, wenn sie wiederkam? Ihm so nahe gewesen zu sein, ohne ein Wort mit ihm wechseln zu können, schmerzte.
Er zeigte sich ihr gegenüber immer unnahbarer. Was ging hinter seiner Stirn vor? Wieso hatte er ihr kein Lächeln geschenkt? Dabei trug sie heute zum ersten Male ein Gewand, das allein für sie genäht worden war. Er schien es nicht einmal bemerkt zu haben. Beim Hochamt zu Mariä Verkündigung, als sie ihn zum letzten Mal gesprochen hatte, war er noch freundlich und verständnisvoll gewesen, wenn auch knapp und ungewohnt eilig. Was hatte ihn seither gegen sie aufgebracht?
»Von Flavy ist Euch nicht böse. Er hat nur schlechte Laune, weil es Aufruhr im Rat des Königs gab.«
Séverine blieb mitten im Gang stehen und sah Robert, der sie so bestimmt ansprach, verdutzt an.
»Von was sprichst du?«, fragte sie ihn unverblümt ohne ehrfurchtsvolle Anrede. Die kam ihr bei seiner Jugend gar nicht in den Sinn.
»Ihr habt seinetwegen Kummer, das sieht jeder. Ihr verschlingt ihn ja geradezu mit Blicken. Meine Mutter ist gegen den Vorschlag Philippes, die Münzsysteme und Maßeinheiten des Königreiches zu vereinheitlichen. Sie hat ihn beim König in Misskredit gebracht. Mit dem Ergebnis, dass Philippe mit seinen Plänen im Rat gescheitert ist.«
»Und warum beeinträchtigt das auch die Laune des Seigneurs von Flavy, Schlaumeier?«
»Weil er Philippe nahesteht. Er teilt seine Vorstellungen und hält seine Pläne für richtig. Wie könnt Ihr in diesem Hause wohnen und das nicht wissen?«
Mir scheint, ich weiß einiges nicht, ging es Séverine durch den Kopf, doch sie sprach es nicht aus. Es mochte der Grund für Adriens Missmut sein, aber dass es der Grund für seine Zurückhaltung ihr gegenüber sein sollte, war nicht schlüssig. Séverine fürchtete, dass Robert sich
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