Turm der Lügen
sie jetzt beide in der gleichen Stadt lebten, schmerzte das Warten plötzlich doppelt. Ganz im Geheimen hatte sie davon geträumt, in Paris an seinem Leben teilhaben zu dürfen. Wie dumm von ihr. Stattdessen fiel es ihr zunehmend schwerer, das eigene, alte Leben in Erinnerung zu behalten. Étoile, Antares und Elvire schienen in einer anderen Welt zu wohnen. Blanche und ihre Begleiter waren die Wirklichkeit.
Konnte es zwei unterschiedlichere Schwestern geben als die Töchter Mahauts von Artois? Die eine glitzernd, oberflächlich und selbstverliebt wie ein Pfau, die andere schlicht, elegant und gütig, stets um andere besorgt. Wie wohl die Dritte im Bunde war? Ihre Base, Marguerite von Burgund, die künftige Königin Frankreichs?
Träum nicht!,
mahnte sie sich mit Elvires Lieblingsspruch.
Was geht dich Jeannes Cousine an. Denk lieber an Adrien, er verlässt sich darauf, dass du deine Pflicht tust.
Tapfer verließ sie ihr Versteck und begab sich auf den Weg zu Jacquemine.
* * *
Schon wenige Tage später sollte Séverine Marguerite kennenlernen. Sie überraschte ihre Schwägerin Jeanne, als sie Séverine im Sonnenzimmer die Verhaltensregeln adeliger Damen nahebrachte.
Unterdrücktes Gelächter und das Rascheln von Stoff machten der Lektion ein abruptes Ende.
»Was versuchst du da zu vermitteln, Jeanne? Die Lehren des Gottfried von Straßburg, der hochgeschlossene Kleidung für jedes weibliche Wesen fordert?«
Es klang leichthin nach Hänselei, aber im Tonfall schwang mehr mit als nur der Wunsch, die andere zu necken.
»Es sieht nicht so aus, als würdest du seine Meinung teilen, Marguerite.«
Damit spielte Jeanne auf das tief ausgeschnittene Kleid der Besucherin an. Marguerite war zweifellos die Schönste des Trios. Mochte Jeanne die edleren Züge haben, Blanche das strahlendere Haar, Marguerite verkörperte Vollkommenheit – von den rabenschwarzen Haaren bis hin zu den dunkel leuchtenden Augen. Sie zog die Blicke magisch an. Séverine hatte nie eine vergleichbar makellose Erscheinung zu Gesicht bekommen. Dennoch wehrte sich etwas in ihr dagegen, sie zu bewundern.
An Frauenschönheit sind schon viele zugrunde gegangen, kam ihr Pater Cléments Predigt vom letzten Sonntag in den Sinn. Die künftige Königin Frankreichs, durch Heirat bereits Königin von Navarra, beunruhigte Séverine auf eine Weise, die sie schwer in Worte fassen konnte.
»Komm mir nicht mit deinen geistvollen Spitzen, Jeanne«, winkte Marguerite ungerührt ab. »Blanche hat mir schon verraten, dass du ein neues Spielzeug hast und nur noch wenig Zeit für unsere gemeinsamen Unternehmungen. Wer oder was um Gottes willen reitet dich, ausgerechnet diese Séverine in dein Haus zu nehmen?«
»Ausgerechnet sie? Was willst du damit sagen?«
»Tu nicht so unschuldig, du weißt genau, was ich meine. Sie gleicht dir wie eine Zwillingsschwester. Weiß deine Mutter, was du hinter ihrem Rücken treibst? Ich möchte wetten, dass sie dir die Hölle heißmacht, wenn sie davon erfährt. Séverine muss ein Bastard deines Vaters sein.«
Séverine sah entsetzt von Marguerite zu Jeanne. Das Wort Bastard legte sich wie ein eiserner Reif um ihre Brust. Konnte es wahr sein? Im gleichen Augenblick entsann sie sich Adriens Worten.
Deine Herkunft ist makellos, hatte er geschworen.
»Mein Name ist Séverine Gasnay, und ich bin niemandes Bastard«, erhob sie tapfer ihre Stimme.
»Du hörst, was sie sagt«, wurde Jeanne eisig. »Ich bin dir verbunden, Marguerite, aber nichts auf der Welt gibt dir das Recht, hier hereinzuplatzen und Unfrieden zu stiften. Was ist nur in dich gefahren? Abgesehen von deiner unglaublichen Behauptung verbitte ich mir deine Einmischung in meine Haushaltsführung. Séverine, sag Jacquemine bitte Bescheid, dass ich nicht zu den Kindern kommen kann. Meine liebste Base ist hier.«
Der spöttische Seitenhieb war verschwendet an Marguerite.
»Wenn du denkst, du könntest die Angelegenheit auf deine Weise regeln, dann täuschst du dich, Jeanne. Denk nach. Meine Tante, deine Mutter, Mahaut von Artois, wird es nicht dulden, das Ergebnis eines Seitensprunges ihres verstorbenen Mannes unter deinem Dach und unter deinen Damen zu finden. Sie ist keine Frau, die man betrügt. Und wenn doch, so wird sie jede Spur davon tilgen wollen. Widersprich mir nicht. Sieh dir Séverine an. Sie ist jünger, aber sie hat wie du die Augen eures Vaters. Ich erinnere mich sehr gut an ihn. Er war ein anziehender Mann.«
Séverine verharrte in zunehmendem
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