Turm der Lügen
täuschte. Sie kannte Adrien gut genug, um zu spüren, dass sein Unmut auch mit ihr zu tun hatte. Hielt auch er sie für einen Bastard?
Sie hätte ihn gerne gefragt, was er von dieser Behauptung dachte und ob etwas Wahres daran war.
»Wie verstehst du dich mit Adrien von Flavy?«, fragte sie Robert geradeheraus.
»Er ist aufrecht und edelmütig, ihm kann man vertrauen. Er ist allerdings ein eingeschworener Feind meiner Mutter. Sie spuckt Gift und Galle, wenn sie sich über den Weg laufen. Es missfällt ihr im Übrigen, dass ich ihn mag.«
»Kennst du den Grund für die Feindschaft zwischen den beiden?«
Er hob vielsagend die Schultern und überließ es ihr, Rückschlüsse zu ziehen.
Jeanne erwähnte ihre Mutter nur selten. Es schien, als sei sie glücklich, sie möglichst fern zu wissen.
Die mächtige Mahaut von Artois wurde von ihrer Familie mehr gefürchtet als geliebt. War es nicht besser, keine Mutter zu haben, als eine solche? Wie lange würde es ihr noch gelingen, ihrer Aufmerksamkeit zu entrinnen? Und was würde geschehen, wenn sie in ihr Blickfeld geriet und sie ihre Ähnlichkeit mit Jeanne entdeckte? Würde Adrien da sein, um sie zu schützen? Sein Verhalten ihr gegenüber war nicht dazu angetan, ihr Sicherheit zu schenken.
Die kaum sechs Wochen alten Windhunde lenkten sie beide von den trüben Gedanken ab. Robert vergaß, wie sehr er unter der mütterlichen Autorität litt. Séverine herzte den schwächsten Rüden des Wurfes, der ihr dankbar die Hände leckte und vor Begeisterung ihre Rocksäume nässte. Sie lachten miteinander, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie sich benahmen, als wären sie Bruder und Schwester.
* * *
Der Schnee breitete eine weiße Decke über die Stadt und bedeckte gnädig Schmutz und Unrat. Gegen den beißenden Gestank aus den Schlachthöfen hinter dem Châtelet war er freilich machtlos.
Séverine reckte den Kopf aus dem Fenster und schloss die Augen. Die Schneekristalle brannten ihr kalt auf der Haut, ehe sie zu Wasser wurden. Auf ihren Lippen schmeckte sie den Winter.
Obwohl es nicht genügend Feuerholz in Paris gab, litten die Reichen kaum. Im großen Saal des Palastes glosten ganze Stämme. Morgens brachten die Mägde Eisenbecken mit Glut in die Schlafkammern, und in der Kinderstube war es angenehm warm. Noch nie hatte Séverine in einem Winter so wenig gefroren. Pater Clément plagte, unabhängig vom Wetter, die Gicht. Jacquemine war vorsorglich eingewickelt in mehrere Umschlagtücher, die sie noch runder machten, als sie schon war. Jeanne war abgereist.
Auch die drei Schwiegertöchter des Königs verbrachten die Weihnachtstage und das Dreikönigsfest bei Hofe. Seine Majestät legte Wert darauf, die Geburt Christi im Kreise seiner Familie zu feiern.
»Sei froh, dass du mich nicht begleiten musst«, hatte Jeanne bei ihrer Abreise geseufzt. »Der König ist in den letzten Jahren so fromm geworden, dass wir den halben Tag auf Knien verbringen. Danach warten endlose Bankette auf uns und Streitereien zwischen Philippe und seinen Brüdern. Louis dem Zänker kann niemand etwas recht machen, und Charles ist besessen von dem Wunsch, als Erster einen Sohn zu zeugen, um somit die Thronfolge zu sichern. Dass Blanche bereits zwei Kinder verloren hat, ehe sie zur Welt kommen konnten, kümmert ihn dabei wenig. Ich werde froh sein, wenn diese Feiertage vorüber sind.«
Séverine wäre trotzdem gerne an ihrer Seite geblieben. Zurückgelassen fühlte sie sich noch einsamer als sonst. Sehnsüchtig dachte sie an das vergangene Jahr, an die Ausritte mit den Pferden, die Vorbereitungen zum Fest der Geburt Christi, das rege Leben in der Küche und das herzhafte Lachen Elvires. Unter Jeannes Gesinde gab es keinen, der so viel Frohsinn verbreitete wie die Köchin in Faucheville.
Welchen Sinn hatte ihr Leben in Paris? Die Frage setzte Séverine immer mehr zu. Die vergangenen Monate hatten ihr alles an Geduld und Beherrschung abverlangt, aber was hatten sie ihr gebracht? Nur die Einsicht, dass sie besser daran getan hätte, zu Hause zu bleiben. Aber war Faucheville noch länger ihr Zuhause?
Trotzig und mit steifem Nacken warf sie das Fenster so heftig zu, dass die Glasrauten in den Bleistegen klapperten. Sie wischte sich die Feuchtigkeit mit den Handflächen aus dem Gesicht und stampfte mit dem Fuß auf. Ein unbefriedigender Ausbruch, denn eine dicke Schicht Stroh, unter einem geflochtenen Binsenteppich, dämpfte den Stoß. Mit einem Seufzer drehte sie sich zum
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