Turm der Lügen
Schreibpult und hielt inne.
Lärm, Stimmengewirr und Gepolter drangen bis in ihre stille Kammer. Ohne auf das offene Tintenfass zu achten, das sie in ihrer Hast vom Pult stieß, rannte Séverine in die große Halle.
Der Aufruhr dort suchte seinesgleichen. Frauen, Edelmänner, Mägde, Knechte, Bewaffnete, Geistliche und Hofbeamte schüttelten ihre Mäntel aus und ereiferten sich über das Wetter. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand eine ungewöhnlich hoch gewachsene Frau. Wie ein General erteilte sie scharfe Befehle. Mahaut von Artois. Niemand musste Séverine sagen, dass sie es war. Sie wusste es auf den ersten Blick.
O Gott, ich muss mich unsichtbar machen, schoss es ihr durch den Kopf.
In den Gang zurückweichend, fragte sie sich, was sie tun sollte. Sie suchte den Schutz eines breiten Türstockes und hielt Ausschau nach Adrien. Sie konnte ihn nicht entdecken.
Aus der Sicherheit ihres Verstecks beobachtete sie die herrschsüchtige Frau. Sie fand weder eine Ähnlichkeit mit Jeanne noch mit Blanche. Fettpolster, hängende Wangen und schlaffe Kinnfalten entstellten sie. Unter einer breiten Stirn saßen tiefliegende Augen. Leblos und glanzlos, Kieselsteine. Der schwere Körper mit den breiten Hüften war in viele Lagen aus burgunderrotem Samt und in braunen Pelz gehüllt. Rote Pomade betonte den strengen Mund. Ein topfförmiger Hut ohne Krempe, mit rotem Samt bezogen und mit zahllosen Perlenarabesken bestickt, bedeckte, von einem unter dem Kinn geknoteten Schleiertuch derselben Farbe gehalten, ihren Kopf. Jeanne war ebenfalls in erlesene Stoffe gekleidet, aber wesentlich schlichter.
»Kohlebecken«, kommandierte Mahaut von Artois mit barscher Männerstimme.
Séverine fühlte sich an den Hühnerhof in Faucheville erinnert. Der größte und stärkste Hahn hatte das Sagen, und alle folgten ihm.
»Würzwein, zusätzliche Pelzdecken und einen Happen zu essen. Ich werde mir den Tod holen, wenn du mich noch länger hier herumstehen lässt, Tochter. Wo steckt dein nutzloser Haushofmeister? Ah, Jacquemine, immer noch die Alte, wie ich sehe …«
Achtsam raffte Séverine ihr Gewand und wich lautlos Schritt für Schritt zurück. Mahaut jagte ihr einen Höllenschrecken ein, noch ehe sie ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Sie flüchtete in ihre Kammer. Die Beseitigung des Tintenflecks und ihre Schreibübungen lenkten sie von ihren Befürchtungen ab.
Sie war dermaßen in ihr Tun vertieft, dass sie mit einem leisen Schrei auffuhr, als Jeanne unverhofft vor ihr stand.
Wie viel Zeit war vergangen? Sie hatte nicht auf die Stundenglocke geachtet. Ein flüchtiger Blick zum Fenster zeigte ihr, dass es in Kürze dunkel sein würde.
»Habe ich mich so verändert, dass du vor Schreck erstarrst?«, lachte Jeanne. »Du hast klug daran getan, dich zurückzuziehen. Meine Mutter ließ sich nicht davon abhalten, mich zu begleiten. Wie geht es dir, meine Liebe?«
Sie griff nach Séverines Händen, zog sie aus ihrer verspäteten Verneigung und schloss sie in die Arme. »Du siehst traurig aus.«
»Die Zeit ist mir lang geworden«, gestand Séverine. »Ich weiß, dass es undankbar klingt. Aber ich bin es nicht gewohnt, so lange eingesperrt zu sein. Mir fehlt der freie Himmel, der Wind in den Haaren, ich vermisse die Ställe von Faucheville …« Ihre Worte waren immer leiser geworden.
»Wir können nicht immer so leben, wie es uns gefällt, mein Kind. Unsere Geburt und unser Rang bestimmen unser Handeln. Du ahnst nicht, wie lang mir die Zeit bei Hofe geworden ist.«
»In Begleitung Eures Gemahls? Das kann ich mir nicht vorstellen. Habt Ihr nicht geseufzt, dass Ihr ihn viel zu selten seht und dass der König seine Söhne, ohne Rücksicht auf seine Schwiegertöchter, im Land herumschickt?«
Der gewollt leichte Ton, zu dem sich Séverine ein wenig zwingen musste, fand keinen Widerhall.
»Du meinst, ich sollte dankbar sein, dass Philippe an meiner Seite war? Sicher, wir haben endlose Stunden im gemeinsamen Gebet verbracht, zusammen gespeist, getanzt, manchmal sogar gelacht. Immer in Gesellschaft des Hofes, der Brüder, meiner Schwester und Base, meiner Mutter und der des Königs. Aber Stunden inniger Vertrautheit waren uns nie vergönnt. Die Sorgen um die Zukunft des Reiches, um die Staatsfinanzen und die Angelegenheiten der Templer rauben dem König den Schlaf. Er nutzt die Stunden der Nacht, um sich mit seinen Räten zu besprechen, und wie du mittlerweile weißt, besteht der königliche Rat zum großen Teil aus
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