Turm der Lügen
Familienmitgliedern, weil er ihnen am meisten vertraut. Wie ich unter solchen Umständen in die Hoffnung kommen soll, um einen Sohn zu gebären, ist mir ein Rätsel. Von unseren Töchtern nimmt er keine Notiz. Manchmal denke ich, er hat vergessen, dass zwei Menschen etwas dazu tun müssen, um einen Sohn und Erben zur Welt zu bringen.«
Ein glucksender Laut, der ein unterdrücktes Lachen Séverines verriet, ließ Jeanne tiefrot werden. Sie hatte ihre geheimsten Gedanken ausgesprochen.
»Lieber Gott, ich sollte nicht über solche Dinge mit dir reden. Du bist zu jung und zu unerfahren.«
»Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Ich weiß sehr wohl, dass die Kinder nicht auf dem Wasser geschwommen kommen«, entgegnete Séverine offen.
»Es ist dennoch unerhört, solche Gespräche zu führen«, widersprach Jeanne. »Ich sollte es nicht tun. Aber die Tage mit Blanche und Marguerite gehen nicht spurlos an mir vorüber. Jedes Gespräch landet früher oder später immer bei der Frage, wer als Erste einen Sohn empfängt. Marguerites Tochter Jeanne zählt in den Augen des Königs ebenso wenig wie unsere Mädchen. Er würde Louis und sie am liebsten mit Gewalt auf das eheliche Lager zwingen. Dass sie sich von Herzen verabscheuen und einander nach Möglichkeit aus dem Wege gehen, will er nicht wahrhaben.«
»Welches Missverständnis entzweit die beiden eigentlich so sehr?«
»Es ist weniger ein Missverständnis, als die völlige Unvereinbarkeit ihrer Charaktere. Louis fühlt, dass ihn Marguerite verachtet, und er revanchiert sich, indem er sie nach Kräften vor den Kopf stößt.«
»Besteht denn gar keine Hoffnung darauf, dass sich die beiden irgendwann wieder versöhnen?«, wagte Séverine zu fragen.
»Versöhnung ist ein Wort, das der Zänker nicht kennt. Und Marguerite ist zu stolz, den ersten Schritt zu tun. Sie vertändelt lieber ihre Zeit, lässt sich von Günstlingen hofieren und zeigt ihrem Mann die kalte Schulter. Blanche, das dumme Ding, ahmt sie auch noch nach. Inzwischen wirft sie Charles in aller Öffentlichkeit vor, dass er sie vernachlässigt.«
»Somit ruhen alle Hoffnungen auf Euch.« Séverine erfasste, welcher Vertrauensbeweis ihr mit diesem Gespräch zuteil wurde. Es war ungewöhnlich, dass Jeanne so offen über solche Fragen mit ihr sprach.
»Ihr werdet den Sohn empfangen, noch vor Eurer Schwester, dessen bin ich sicher«, versuchte sie ihr den Rücken zu stärken. »Warum ist Eure Frau Mutter hier? Wird der Besuch länger dauern?«
»Davor bewahre mich Gott. Aber bis sie wieder fort ist, musst du in deiner Kammer bleiben. Das halte ich für sicherer. Ich will nicht, dass es noch mehr Schwierigkeiten gibt. Jacquemine wird sagen, dass du krank bist, wenn eine der Frauen sich wundert, dass du dich dem Hofstaat nicht anschließt.«
Séverine versprach, sich daran zu halten, obwohl es ihr von Herzen widerstrebte. Es lag ihr daran, Jeannes Sorgen nicht zu mehren. Die nächsten Tage würden aufregend genug für sie werden.
Jeannes Mutter war eine der mächtigsten Edeldamen des Landes. Philippe musste die Schwiegermutter unter seinem Dach in allen Ehren hofieren. Dafür benötigte er seinen gesamten Hofstaat. Adrien gehörte zum Gefolge. Als eine Art Gefangene in ihrer Kammer würde sie ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen.
Sie hasste Mahaut von Artois dafür.
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Viertes Kapitel
W ie angenehm deine Stimme ist, Séverine. Du liest wunderbar.«
Sie schloss das Buch. Am liebsten hätte Séverine Jeanne aufrichtig gesagt, dass sie die Erzählung von Benoît de Saint-Maure inzwischen fast auswendig vortragen konnte, so oft hatte sie die Geschichte von Priamus und Hekuba schon vorgelesen, aber sie verzichtete darauf. Jeanne war mit ihren Gedanken ohnehin nicht bei der Sache.
»Seid ehrlich, Ihr habt gar nicht zugehört«, platzte sie heraus. »An was denkt Ihr?«
Jeannes verblüffter Blick machte ihr klar, dass sie wieder einmal die Grenzen überschritten hatte. Höchstens der König, ihre Mutter oder ihr Gemahl durften der Gräfin von Poitiers Unaufmerksamkeit vorwerfen. Wann würde sie das endlich lernen?
Sie grub die Zähne in die Unterlippe und wartete auf den verdienten Tadel. Er kam nicht. Im Gegenteil, Jeanne lachte vergnügt auf.
»Du hast mich ertappt. Entschuldige, ich habe dir wirklich gerne zugehört, auch wenn es mir an der nötigen Konzentration gefehlt hat.«
Sie brach ab, überlegte kurz.
»Ich frage mich, ob du mir einen Gefallen erweisen würdest, der nicht zu deinen normalen
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