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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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Entsetzen. Zwar hätte es ihr sehr wohl gefallen, so eng mit Jeanne verbunden zu sein, aber nicht unter diesen Voraussetzungen. Schon Loups Vorwürfe, die sie noch als das Gefasel eines Betrunkenen hatte abtun können, hatten ihr Kummer bereitet. Ihr Stolz und ihre Ehre waren alles, was sie besaß. Marguerite hatte kein Recht, sie zu schmähen.
    »Lass uns bitte alleine, Séverine«, hörte sie Jeanne sanft, aber nachdrücklich sagen, ehe sie sich wieder Marguerite zuwandte. »Wer hat dir diesen Unsinn in den Kopf gesetzt? Blanche etwa? So etwas kann nur auf ihrem Mist gewachsen sein. Nimm sie nicht ernst. Sie ist gekränkt, weil Charles sie vernachlässigt. In dieser Stimmung stiftet sie gern Unfrieden. Du kennst sie. Meine Schwester benimmt sich wie ein verzogenes Kind, wenn sie nicht ihren Willen bekommt. Wenn man ihr nicht zu jeder Stunde von neuem sagt, dass man sie liebt, kommt sie auf die aberwitzigsten Gedanken.«
    Séverine gehorchte nur widerstrebend. Es missfiel ihr, dass Jeanne mit Marguerite über sie sprach. Die künftige Königin von Frankreich war ihr unheimlich.
    * * *
    »Was treibst du da, Kind?« Im Spiegel hinter Séverine tauchte Jacquemine auf, mit entrüsteter Miene, die Arme in die Taille gestemmt. »Du solltest das Brevier holen. Und was tust du? Du spreizt dich vor dem Spiegel und begehst die Sünde der Eitelkeit.«
    Séverine sah auf dem polierten Rund, wie Röte in ihre Wangen schoss. Die fast verblassten Sommersprossen wurden dunkler. Sie suchte nach einer Entschuldigung. Das Buch hatte sie schon in der Hand, aber beim Anblick des prächtigen Spiegels hatte sie Auftrag und Umgebung vergessen.
    Sah sie Jeanne wirklich so ähnlich? Die Frage ließ ihr keine Ruhe mehr. Sie wollte die Gelegenheit nützen, es zu überprüfen. Mit der Fingerkuppe hatte sie den Schwung der geraden Nase nachverfolgt, die volle Unterlippe umrundet. Das eigene Bild verfremdete sich, so aus der Nähe betrachtet. Weder die Spiegelung im Wasser noch die vagen Reflexionen eines polierten Zinntellers hatten ihr je ein so deutliches Bild von sich selbst vermittelt.
    Die fragenden Augen, ihre Gesichtszüge waren im glänzenden Silber dieses edlen Spiegels ebenso zu erkennen wie der angeschlagene linke obere Schneidezahn. Sie hatte ihn sich vor drei Sommern beschädigt, bei dem Versuch, das neue Streitross des Barons ohne Sattel zu reiten. Jeannes weiße Zähne waren makellos.
    Wo lag sie, die angeblich so augenfällige Ähnlichkeit? Bei den hellbraunen Augen, dem Haar, der Körpergröße? Die Kupferschattierung in ihrem Haar leuchtete dunkler als Jeannes Rotblond. Ratlos senkte sie die Lider.
    »Keine Ausrede? Keine Entschuldigung?« Jacquemine wurde ungeduldig. »Denkst du, du hast keine Belehrung mehr nötig?«, wies sie Séverine streng zurecht.
    »Ach Jacquemine, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.« Séverine wandte sich um, legte die Arme um die füllige Taille Jacquemines und barg den Kopf an ihrem Busen.
    Ebenso gerührt wie entwaffnet, verspürte Jacquemine das Bedürfnis, sie zu trösten. »Was ist passiert? Du bist verwirrt. Ich merke es schon die ganzen Tage. Was geht in deinem Kopf vor?«
    Die Worte drängten sich auf Séverines Zunge. Nur zu gerne hätte sie sich der mütterlichen Frau anvertraut und sie um Rat gebeten, aber kein Laut kam ihr über die Lippen. Sie hatte Adrien Geduld und Schweigen versprochen. In Gedanken daran schüttelte sie stumm den Kopf und befreite sich aus der Umarmung.
    »Es tut mir leid. Ich wollte nicht ungehorsam sein. Es ist nur …« Sie zögerte, dann sprach sie wahrheitsgetreu weiter. »Ich habe mich noch nie in einem Spiegel gesehen. Es gab keinen in meinem Leben. Ich weiß nicht einmal, ob Amicia je einen besaß.«
    »Amicia? Ist das deine Mutter?«
    »Sie hat mir die Mutter ersetzt.«
    »Hätte es denn sein können, dass sie einen besaß? Bist du im Haus eines Edelmannes aufgewachsen?«
    Séverine vermied es im letzten Augenblick, in die Falle zu laufen. Jacquemine war nicht die Einzige, die immer wieder versuchte, Licht ins Dunkel ihrer Herkunft zu bringen. Sie hatte gelernt, indirekten Fragen aus dem Weg zu gehen.
    »Entschuldigt, ich muss Madame Jeanne das Brevier bringen«, sagte sie schnell.
    Jacquemines Blicke im Rücken, eilte sie davon. Viel zu schnell für eine wohlerzogene Edeldame, aber mit ausgesuchter Anmut. Sie fand Jeanne in ihrem Arbeitskabinett, im ungezwungenen Gespräch mit drei Männern.
    Es drängte sie danach, einem von ihnen mit einem

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