Turm der Lügen
Einzige, was sie beunruhigte, war der Gedanke, dass es für diese Zurücksetzung einen ernsthaften Grund geben musste.
War es das Geheimnis um ihre Abstammung, das Adrien so konsequent für sich behielt? Machte es auch Jeanne Sorgen?
Binnen kurzem erfüllten die plaudernden Stimmen wieder den Raum. Blanches Klage übertönte alles. Sie lamentierte ausführlich über ihren Mann, der die Herbstjagden des Hofes anregender fand als ihre Gesellschaft. Séverine beobachtete währenddessen einen von Blanches Begleitern dabei, wie er sie mit den Augen verschlang. Was fand er nur an ihr? Sie war keine angenehme Person.
»Die Jagd ist nun einmal das einzige Vergnügen des Königs, seit er seine Gemahlin zu Grabe tragen musste. Gönne ihm doch wenigstens die Gesellschaft seiner Söhne dabei«, vernahm sie Jeannes beruhigenden Einspruch. »Du weißt, wie schwer den König seine Sorgen drücken. Seit auf sein Geheiß die Ritter des Templerordens mitsamt ihrem Großmeister verhaftet wurden, findet er kaum eine Stunde der Besinnung und Erholung. Du hast noch ein ganzes Leben mit Charles vor dir, das des Königs neigt sich bereits dem Ende zu. Sei großzügig, Schwester.«
»Ich habe nicht deine Geduld! Ich ertrage es nicht, so wenig Aufmerksamkeit von meinem Mann zu bekommen!« Blanche sprang auf und presste sich mit einer gespreizten Geste die Fingerspitzen an die Schläfe, ehe sie sich dem gemeinsamen Hofstaat zuwandte. »Lasst uns allein. Meine Schwester und ich haben etwas zu besprechen.«
Séverine schloss als Letzte die Tür. Sie nutzte die günstige Gelegenheit, ein wenig Zeit für sich selbst zu haben.
Sie machte sich auf den Weg zur Wäschekammer. Auf breiten Borden und in tiefen Kästen wurde hier das Leinen für Betten, Tische und Leibwäsche aufbewahrt. Nur zwei schmale Fenster sorgten für Dämmerlicht. Es duftete angenehm nach den getrockneten Kräutern, die sowohl die Laken aromatisierten wie auch das Ungeziefer fernhalten sollten.
Um diese Tageszeit kam keine Menschenseele in den Raum. Séverine setzte sich auf eine der Truhen, legte das Kinn auf die angezogenen Knie und umschlang die Beine. Nur in dieser Abgeschiedenheit erlaubte sie sich das Heimweh, das sie vor Jeanne und Jacquemine verbergen musste, um nicht undankbar zu erscheinen.
Seit sie vor Wochen Mitglied des Haushaltes geworden war, hatten solche Augenblicke Seltenheitswert. Jeanne nahm ihre Zusage an Adrien ernst. Es gab unendlich vieles, was Séverine ihrer Ansicht nach beherrschen musste. Nicht zuletzt legte sie Wert darauf, dass sie Lesen und Schreiben lernte. Obwohl von schneller Auffassungsgabe, hatte Séverine große Mühe, über längere Zeit still zu sitzen. Jeanne hatte den Unterricht Pater Clément, dem Hauskaplan, übertragen. Sie überzeugte sich in regelmäßigen Abständen von den Fortschritten ihres Schützlings, überließ es aber dem Kirchenmann, Séverines überschäumendes Temperament zu bändigen. Sie verbrachte ihre Zeit lieber in der Kinderstube, wo Jacquemine und die beiden Ammen ihre kleinen Töchter versorgten und hüteten.
Die winzige Isabelle war erst wenige Monate alt. Marguerite stand vor dem dritten Geburtstag, war aber von so zarter Gesundheit, dass sie noch gestillt werden musste. Lediglich Jeanne, die Älteste, stapfte mit ihren fünf Jahren bereits auf stämmigen Beinchen herum. Sie war der Augenstern ihrer Mutter. Auch Séverine hatte sie liebgewonnen.
Ob Adrien an den Jagden teilnahm, die Blanche so missfielen?
Mit der Regelmäßigkeit des Glockenschlages der Kirchen rund um das
Hôtel d’Alençon
tauchte Adrien in ihren Gedanken auf. Er erschien viel zu selten bei Jeanne. Und wenn, dann plauderte er über Gott und die Welt mit ihrer Herrin, an sie richtete er nur wenige Worte. Unzählige Male war sie versucht gewesen, nach ihm zu fragen oder zu schicken. Tatsächlich getan hatte sie es noch nie. Was sollte sie für einen Grund nennen?
Nie zuvor war sie so umsorgt worden. Sie trug Kleider, deren Stoffe aus Ländern stammten, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte. Sie aß die köstlichsten Speisen, musste keinerlei schwere Arbeit verrichten. Sie war allein Jeanne und Jacquemine Rechenschaft schuldig.
Adrien hatte ihr Hilfe und Unterstützung versprochen. Mit der ihr eigenen Ehrlichkeit musste sie einräumen, dass sie weder das eine noch das andere benötigte. Sie vermisste ihn einfach nur. Mehr als je zuvor. Auch in Faucheville hatte sie ihn in den letzten Jahren kaum gesehen, aber im Wissen, dass
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