Turm der Lügen
wichtiger als die Aufklärung des Dramas ihrer Herkunft. Er merkte, dass sie ihm zunehmend näherstand, näher als jeder andere Mensch.
Den Tod seiner Mutter und seiner Verlobten hatte er betrauert und als unabwendbar hingenommen. Die Erinnerung daran nährte aber auch den leidenschaftlichen Wunsch, Séverine besser zu behüten und sie vor allen Dingen nicht zu verlieren.
Im Bemühen, ihr Leben zu ordnen, war er völlig unverhofft ihrem Liebreiz erlegen. Sie war anders als jede Frau, die ihm bisher begegnet war. In einem Augenblick mädchenhaft und scheu, im nächsten kämpferisch und leidenschaftlich. Sie, das Kind, das niemand haben wollte, im Arm zu halten, versetzte ihn, trotz aller körperlichen Unbill, in nie erlebte Hochstimmung. Ihre Gegenwart schenkte ihm ein unerwartetes Glücksgefühl. Der Wunsch, dieses Glück zu bewahren, überfiel ihn mit Macht.
Sein Vater würde einer Verbindung mit Séverine niemals zustimmen. Aber das Wissen darum änderte nichts an seinen Wunschträumen.
»Am liebsten würde ich mit dir so ans Ende der Welt reiten«, hörte er sie in diesem Augenblick verträumt murmeln. »Warum gibst du dem Pferd nicht die Zügel? Lass uns herausfinden, was hinter dem Horizont liegt.«
»Und was ist mit Jeanne, Philippe, dem König, meinem Vater, den Menschen in Faucheville …«
Die Aufzählung der Pflichten rief Séverine in die Wirklichkeit zurück.
»Du hast recht. Ich war nur gerade so glücklich und fühlte mich so frei wie schon lange nicht mehr.«
Séverine nahm den Kopf von seiner Schulter, drückte den Rücken durch und schwieg.
Sollte er noch etwas sagen?
Er entschied sich dagegen. Es war besser, wenn sie Abstand wahrten. Aus welchem Grund auch immer.
* * *
An zwei Flüssen gelegen und von einer großen Festung beherrscht, war Pontoise seit jeher ein Lieblingsort Philippes des Schönen. Er zog jedoch Maubuisson dem Stadtschloss als Wohnsitz vor. Diese Burg lag auf dem anderen Flussufer, der Stadt gegenüber, und in unmittelbarer Nähe der von Blanka von Kastilien gegründeten großen Zisterzienserinnenabtei. Der ausgedehnte Park und der angrenzende Wald boten ihm sowohl Abgeschiedenheit wie vielfältige Jagdmöglichkeiten. Jagd und Gebet waren die einzigen Leidenschaften des Monarchen, der an diesem Abend seine Tochter in die Arme schloss.
Das Festmahl im engsten Familienkreis, mit nur wenigen auserwählten Höflingen und Edeldamen aus den ersten Familien, war zu Ende. Dass auch die beiden Liebhaber von Blanche und Marguerite ganz ungeniert teilnahmen, erstaunte Séverine. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Hatten sie keine Furcht, Verdacht zu erwecken?
»Die Königin von England schien missmutig und freudlos«, stellte Séverine fest, als sie mit Jeanne, die sich für den weiteren Abend noch einmal frisch machen wollte, allein war. Auch der König hatte sich mit der Tochter und den Söhnen zurückgezogen.
»Warum ist sie nach Frankreich gekommen? Die Liebe zu ihrer Familie kann sie kaum dazu bewogen haben. Außer dem König gönnt sie keiner Menschenseele ein Lächeln. Ihre Brüder übersieht sie. Auch Euch und ihren anderen Schwägerinnen begegnet sie mit eisiger Kälte.«
»Sie war kaum dreizehn, als sie in Boulogne vor sechs Jahren mit dem König von England vermählt wurde. Es waren keine angenehmen Jahre, die sie erwachsen und zur Mutter eines Sohnes gemacht haben«, antwortete Jeanne nachdenklich. »Isabelle tut mir von Herzen leid, und genau dies nimmt sie mir wahrscheinlich so übel. Sie will respektiert, geachtet, bewundert, vielleicht sogar gefürchtet werden, aber keinesfalls bedauert.«
»Sie will auch nicht wahrhaben, dass andere Frauen vielleicht glücklicher sein könnten als sie«, stellte Séverine fest. »Sie fixiert Blanche und die Königin von Navarra feindselig, wann immer sie lachen oder Freude zeigen. Missgunst und Eifersucht werden ihre Seele noch zerstören.«
»Du hast eine scharfe Beobachtungsgabe, Séverine. Behalte deine Gedanken für dich und teile sie außer mit mir mit niemandem. In Maubuisson ist Vorsicht geboten. Ich bin sicher, in Isabelles Begleitung befinden sich die besten Spione des englischen Königs, die ihm jedes Wort zutragen.«
»Ist es unter diesen Umständen klug, dass die Brüder Aunay so ungeniert am Festmahl teilnehmen?«, wagte Séverine die Frage, auf die sie sich selbst keine Antwort finden konnte.
»Nein«, gab Jeanne verärgert zu. »Aber es lag nicht in meiner Macht, es zu verhindern. Sie zählen zu
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