Turm der Lügen
mich war es das erste.«
»Umso genauer hast du vielleicht zugehört und beobachtet. Nur Mut, Séverine. Verrate mir, was du denkst. Ich habe bemerkt, dass du ein gutes Gespür für Situationen hast. Ist dir nichts aufgefallen am Benehmen der königlichen Familie?«
Séverine suchte nach den richtigen Worten.
»Ich habe mich nicht wohl gefühlt in diesem Kreis. Sie belauern einander wie Raubtiere. Keiner traut dem anderen über den Weg. Ich frage mich, wie die Königin von Navarra und Blanche unter solchen Umständen lachen können. Obwohl ich zweifle, dass Marguerite tatsächlich so unbeschwert ist, wie sie sich gibt. Robert von Artois ließ sie nicht aus den Augen. Sie muss es bemerkt haben. Er macht keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck auf mich.«
»Das spricht für deine Menschenkenntnis. Er ist Mahauts Neffe, aber gleichzeitig ihr eingeschworener Feind. Sie hat ihn um Titel und Erbe betrogen. Er sucht nach Möglichkeiten, ihr zu schaden.«
»Hat diese Frau nur Feinde?«, wunderte sich Séverine.
»Zumindest mehr Feinde als Freunde«, knurrte Adrien. »Ein Segen, dass sie nicht hier ist. Isabelle hasst sie noch mehr als ihre Schwägerinnen. Ich werde dem Himmel danken, wenn wir diese Tage in Pontoise ohne hässlichen Zwischenfall überstanden haben.«
»Was fürchtest du?«
Sie rechnete nicht damit, dass er sich ihr anvertrauen würde, die Ehrlichkeit seiner Antwort erstaunte sei.
»Das Schlimmste. Mir sagt mein Instinkt, ich müsste etwas tun, etwas verhindern. Aber ich weiß nicht, was. Nie zuvor habe ich mich so ratlos und unsicher gefühlt.«
Das Eingeständnis seiner Hilflosigkeit überwältigte Séverine. War es der Beweis dafür, dass er nicht länger ein Kind in ihr sah? Seine Miene gab ihr keinen Anhaltspunkt. Bisher hatte sie immer gewusst, was hinter seiner Stirn vorging. Aber seit sie Herzklopfen bekam, wenn er sie auf diese besondere, neue Weise ansah, scheute sie sich, die gewohnte Vertraulichkeit aufzunehmen.
Ein völlig neues Gefühl nahm Besitz von ihr. Nicht länger geschwisterlich unbeschwert, sondern fremd und aufregend. Es drängte sie, die Arme um seinen Hals zu legen. Sie wollte sich an ihn schmiegen und seinen Körper spüren. Sie sehnte sich so sehr nach dieser Umarmung, dass es weh tat, und doch war es ein angenehmer Schmerz.
Irgendwo tönten Stimmen. Befehle wurden geschrien, Schritte hasteten plötzlich den Wehrgang entlang. Beide achteten sie nicht darauf. Adriens Hand umfasste ihren Nacken, und zog ihren Kopf unaufhaltsam näher. Ihr Verlangen verstärkte sich, wurde zu einem fast qualvollen Ziehen in ihrem Unterleib. Er neigte sich über sie. Für einen Kuss? Ihre Lippen prickelten vor Erwartung. Die Welt schrumpfte auf den Abstand, der seinen Mund und ihren trennte.
Als er sie von einem Herzschlag zum anderen abrupt wieder freigab, geriet sie ins Taumeln. Was war geschehen? Haltsuchend griff sie in die Dunkelheit und klammerte sich an das Mauerwerk.
Jemand kam auf sie zugerannt. Julien. Er rang nach Luft, war erleichtert, sie gefunden zu haben. Einer der Höflinge hatte gesehen, dass Adrien mit Séverine auf die Wehrmauern gegangen war.
»Langsam. Noch einmal. Was ist passiert?« Adriens Aufforderung bewies, dass er ebenso wenig verstanden hatte wie Séverine, was Julien in höchster Aufregung heraussprudelte.
»Der König hat seine Schwiegertöchter unter Arrest gestellt und die Brüder Aunay festsetzen lassen. Es heißt, sie sollen dem Henker überstellt werden, sobald die Sonne aufgeht!«
»Wessen klagt man sie an?«
Wozu die Frage? Eiseskälte überlief Séverine. Es war passiert. Geschehen, während sie mit Adrien die Realität vergessen hatte. Fröstelnd schlang sie die Arme um den Oberkörper.
»Ehebruch, Majestätsbeleidigung, Verrat«, zählte Julien atemlos auf. »Der König ist außer sich vor Empörung. Er lässt die drei Prinzessinnen festsetzen und hat nach der Äbtissin des Klosters geschickt. Die Nonnen sollen die Sünderinnen unter Aufsicht nehmen, bis das genaue Ausmaß ihrer Verfehlungen festgestellt ist. Der König persönlich will das Gericht über sie halten und ihre Strafe bestimmen, sagt man.«
»Welche Strafe?«, stammelte sie tonlos.
»Darüber zu entscheiden obliegt allein dem König«, antwortete Adrien an Juliens Stelle. »Ehebruch ist eine Todsünde. Besonders in den Augen eines frommen Mannes, der seine Frau über alles verehrt hat. Die betrogenen Ehemänner sind seine Söhne. Er wird kein Verständnis für den
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