Turm der Lügen
drängen.
›Man darf dich nicht erkennen. Es ist gegen den Willen deines Vaters, Jeanne zu treffen. Er muss dir wohlgesinnt bleiben, wenn du etwas bei ihm erreichen willst‹, hatte er ihm zugeredet.
Seine eigenen Gefühle für Séverine ließen ihn jedoch ahnen, wie sehr es den Freund danach drängte, einen letzten Blick auf seine Frau zu werfen. Er hob die Laterne hoch genug, damit ihr Licht auf das blasse, verzweifelte Gesicht fiel.
Jeanne schaute stumm ins Dunkel, nachdem sie Séverine zum Abschied heftig umarmt hatte.
Es war inzwischen Nacht geworden. Sie konnte Philippe weder deutlich sehen noch seinen Gesichtsausdruck erkennen, aber sie fühlte seine Gegenwart wie eine tröstende Berührung.
Lebe wohl, rief sie stumm.
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Zehntes Kapitel
E s schüttete wie aus Kübeln. Der Regen rann über Schieferdächer, gurgelte in den Dachrinnen und ergoss sich in Kaskaden aus den Mäulern der steinernen Wasserspeier, die das
Hôtel d’Alençon
zierten. Er spülte den Unrat von den Hügeln auf die tiefergelegenen Uferstraßen und ließ den Fluss anschwellen, so dass er gefährlich um die Brückenpfeiler rauschte.
Es regnete seit Wochen. Der nasse Frühling war in einen noch feuchteren Sommer übergegangen. Die Straßen waren überflutet.
Schon jetzt schien klar, dass der Winter eine Hungersnot nie gekannten Ausmaßes bringen würde. Auf den Märkten der Stadt wurden mehr Hiobsbotschaften als Speckseiten und Feldfrüchte gehandelt.
Die Äcker des Königreiches waren so durchweicht, dass die Saat davonschwamm. Das Vieh ertrank in den Bächen, die über ihre Ufer stiegen und Wege unpassierbar machten. Immer mehr Menschen erkrankten, weil Schlamm und Schmutz die Brunnen und Zisternen verseuchten.
Es sei die Strafe des Himmels, munkelte die Bevölkerung. Die Pariser bekreuzigten sich argwöhnisch, wenn sie zur
Île de la Cité
hinübersahen, wo der König Hof hielt. Es hieß, er verbringe mehr Zeit denn je in der
Sainte Chapelle,
um Zwiesprache mit Gott zu halten.
Séverine starrte durch die gepressten Glasrauten des Fensters und überließ sich ihrer Schwermut. Inzwischen war fast alle Hoffnung in ihr erloschen. Innerhalb von drei Tagen war in Maubuisson ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden, und nun geschah – nichts.
»Wird unser Vater heute kommen?«
Obwohl schon sechs Jahre alt, war Jeannes älteste Tochter, die den Namen ihrer Mutter trug, ein überaus kleines, zierliches Kind.
»Du weißt doch, dass er mit dem König zur Jagd geritten ist, Herzchen«, beeilte sich Jacquemine, die Frage zu beantworten. »Sie werden in einem der Jagdschlösser deines Großvaters Schutz vor dem Wetter gesucht haben. In Dourdan vielleicht. Oder in Fontainebleau. Dein Großvater liebt es, weil er dort geboren ist.«
»Und Mama? Wann kommt sie zu uns zurück? Sie ist noch viel länger fort als Vater.«
Séverine drehte sich bei dieser Frage wieder um und begegnete Jacquemines ratlosem Blick. Langsam wussten sie beide nicht mehr, was sie auf diese Frage antworten sollten. Jeanne war sensibel. Der Verlust ihrer Mutter machte sie unruhig, launisch und schwierig.
»Ich weiß es nicht, Herzchen. Sicher bald.«
Die Kinderfrau zog sie sich auf den Schoß und versuchte, sie abzulenken. Eine Fabel über einen kecken Raben, aus dem reichen Vorrat ihrer Geschichten, half dabei. Auch Marguerite kam dazu und lauschte andächtig. Den Daumen im Mund, die Augen weit aufgerissen. Die Vierjährige war ein zufriedenes, ruhiges Kind.
Isabelle wurde in einer Ecke der Kinderstube von ihrer Amme gestillt. Alle nannten sie inzwischen Bella, um den Namen der Person zu vermeiden, die Unglück über die Familie gebracht hatte. Das kleine Würmchen wurde häufig von Koliken geplagt. Es wollte sich nicht richtig entwickeln, alle sorgten sich um seine Gesundheit.
Bella schwebte ständig zwischen Leben und Tod. Der Arzt des Königs, den Philippe ins Haus gebracht hatte, damit er nach ihr sah, hatte ihnen kaum Hoffnung gemacht.
»Ihr Schicksal liegt in Gottes Hand. Betet für die kleine Seele«, waren seine Worte gewesen.
Über zwei Monate lag die Verurteilung zurück, und noch immer wusste niemand, wohin man die Verurteilten gebracht hatte. Nicht einmal Philippe war es gelungen, es in Erfahrung zu bringen.
Ob er während der verregneten Tage, die keine Jagd erlaubten, seinen Vater gnädig stimmen konnte?
Séverine und Jacquemine verbrachten die Abende gemeinsam, wenn die Kinder endlich schliefen. Séverine lauschte dann den Episoden
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