Turm der Lügen
aus Jeannes und Blanches Jugend so hingebungsvoll wie die Kinder, wenn Jacquemine ihnen Geschichten erzählte. Es half ihr, die Familie besser zu verstehen. Mahaut, ihre Mutter, wurde ihr mit jedem Tag widerwärtiger.
Philippe hatte Adrien das Amt des Haushofmeisters im
Hôtel d’Alençon
angetragen, um sowohl die Sicherheit seiner Töchter wie auch die ihre zu gewährleisten.
Ihre anfängliche Freude darüber, nach der Rückkehr aus Pontoise gemeinsam mit ihm unter einem Dach zu leben, war schnell der Ernüchterung gewichen. Ihre Wege kreuzten sich so gut wie nie. Sie verbrachte ihre Tage zwischen Kinderstube und Schulzimmer. Mit Ausnahme Philippes und eines Knechtes, der Badewasser oder Feuerholz herbeischleppte, kam niemand in diese Räume. Selbst in die Kapelle kam sie nicht. Jede Woche suchte sie Pater Clément im Schulzimmer auf.
Séverine fühlte sich wie eine Gefangene. Jacquemine, ihr einziger Ansprechpartner, versuchte, sie so gut es ging aufzumuntern und ihr Hoffnung zu machen. Sie hatte längst bemerkt, dass Séverines ganze Aufmerksamkeit Adrien galt, und so erzählte sie jede Kleinigkeit, die sie über ihn in Erfahrung bringen konnte.
»Heute Abend ist Adrien zum Essen bei seinem Vater. Ihm wird es nicht recht sein, dass sein Sohn bei Philippe im Rang eines Haushofmeisters tätig ist. So viel ich weiß, hat er große Pläne mit ihm.«
»Woher willst du das wissen?«, warf Séverine überrascht ein.
Jacquemine lächelte gewitzt. »Adriens Vater zählt seit undenklichen Zeiten zu Mahauts Anhängern. Nach dem Tod seiner Gemahlin standen sie einander sogar so nahe, dass es Gerüchte darüber gab. Als Othon, der Pfalzgraf von Burgund, im Jahre 1303 den Verletzungen erlegen war, die er sich in der Schlacht von Courtrai zugezogen hatte, nahmen viele an, dass Adriens Vater ihr zweiter Gemahl werden würde.«
Ein ungläubiger Laut entschlüpfte Séverine.
»Doch, doch. Du kannst es mir glauben. Es muss eine herbe Enttäuschung für ihn gewesen sein, dass Mahaut gar nicht daran dachte, sich wieder zu verheiraten. Sie herrschte lieber für ihren unmündigen Sohn, den kleinen Robert, über die Pfalzgrafschaft. Der Baron blieb zwar ihr Vasall, aber er ging nicht mehr für sie durchs Feuer, wie er es früher einmal getan hat. Inzwischen will er, dass sein Sohn dem Hause Flavy Macht und Einfluss verschafft.«
Sie endete so vielsagend, dass Séverine sie fragend ansah.
»Auf deinen Schultern sitzt ein heller Kopf, gebrauche ihn gefälligst«, mahnte die Kinderfrau denn auch prompt energisch. »Ich warne dich davor, dein Herz an unseren Haushofmeister zu verlieren.«
Séverine wandte sich verlegen ab.
»Ich verstehe ja, dass er dir gefällt.«
Séverine errötete. Sie entsann sich, dass man schon in Faucheville über Adriens bevorstehende Verheiratung spekuliert hatte. Sie wollte nicht daran erinnert werden, aber Jacquemine ließ nicht locker.
»Erlaube, dass ich wie eine Mutter mit dir rede«, fuhr sie fort. »Wir beide wissen, dass auch du ein Kind des Pfalzgrafen sein musst. Der Baron wird nicht zulassen, dass sein Sohn ins Gerede kommt.«
»Und was ist schlecht an meiner Herkunft?«, gab Séverine trotzig zur Antwort.
»Es ist so, wie es ist. In Adelskreisen dienen Ehen dazu, die Macht, den Wohlstand und die Bedeutung einer Familie zu mehren. Auf Gefühle wird keine Rücksicht genommen. Adrien zählt zum engsten Kreis um die Königssöhne. Seine Eheschließung benötigt die Billigung seines eigenen Vaters wie die des Königs. Du greifst nach den Sternen, Kind. Auch wenn dein Herz noch so lauter ist, bist du dennoch einfach keine gute Partie.«
Es drängte Séverine, sich Luft zu machen.
»Ich greife nicht nach den Sternen«, sagte sie aufbegehrend. »Aber ich frage dich: Wo ist mein Platz in dieser Welt? Habe ich kein Recht darauf, einen zu beanspruchen? Muss ich auf mein eigenes Glück verzichten, nur weil meine Mutter gefehlt hat? Bin ich verdammt, für sie zu büßen? So ungerecht kann das Leben nicht sein.«
Jacquemine war betroffen von der Heftigkeit, mit der sie sich beklagte. Sie versuchte, ihr Mut zuzusprechen.
»Wir alle brauchen dich, Séverine. Du hast einen festen Platz in diesem Haushalt und in unseren Herzen. Die Kinder lieben dich. Ich bin zu alt, ihnen in dieser schweren Zeit die Mutter so zu ersetzen, wie du es tust. Jeanne wird es dir lohnen, wenn sie zurückkommt. Ich bin sicher, sie findet dann auch den richtigen Mann für dich. Ich könnte mir gut einen königlichen
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