Turm der Lügen
Legisten, einen Ratsschreiber oder einen Rechtsgelehrten an deiner Seite vorstellen.«
Séverine war mit liebgemeinten Worten und Zukunftsplänen nicht aufzumuntern.
»Ob wir je erfahren, wo man Jeanne gefangen hält und wann sie freikommt?«, wechselte sie das Thema. »Alle halten sich an das königliche Verbot, nie von ihr und den anderen zu sprechen. Es ist, als wären sie bereits gestorben.«
»Dem König wäre es wohl am liebsten«, stellte Jacquemine sachlich fest.
»Warum sagst du so etwas Herzloses?« Die Empörung riss Séverine aus dem eigenen Selbstmitleid. »Nebenan schlafen Jeannes Kinder. Schweig lieber, ehe du so etwas sagst.«
Nie zuvor hatte sie so mit Jacquemine gesprochen. Als sie sah, wie ihr Gesicht fahl wurde, bereute sie die Schärfe ihrer Zurechtweisung. Von dem Gespräch zuvor aufgewühlt, hatte sie ihre Ängste an Jacquemine ausgelassen, statt sich zu beherrschen. Jeanne wäre entsetzt über sie.
Vergebens wartete Séverine auf einen Tadel. Im Gegenteil, die Kinderfrau lächelte.
»Den Ton einer großen Dame, die ihr Gesinde zur Ordnung ruft, beherrscht du bereits«, sagte sie ohne Vorwurf in der Stimme. »Man könnte meinen, du wärest nicht bei Jeanne, sondern bei ihrer Mutter in die Lehre gegangen.«
»Verzeih, …«
Jacquemine unterbrach sie mit einer knappen Handbewegung. »Lass, ich hätte das nicht sagen dürfen. Wir können es uns nicht leisten, in Zwietracht miteinander zu leben. Ich werde jetzt zu Bett gehen.«
Séverine sah ihr nach. Sie wusste nicht, was sie nachdenklicher machen sollte: dass Jacquemine eine Ähnlichkeit mit Mahaut an ihr entdeckt hatte, oder dass sie ihr so großherzig verzieh.
* * *
Das ohrenzerreißende Kreischen drang bis auf den Gang. Philippe runzelte die Stirn, warf Adrien einen erstaunten Blick zu und öffnete die Tür. Das Sonnenzimmer war zum Schlachtfeld geworden.
Die Schwestern Jeanne und Marguerite zerrten einander schreiend an den Zöpfen. Um sie herum lag das Spielzeug: handgroße Kühe aus gebranntem Ton, eine geschnitzte Windmühle, die Leinensegel abgebrochen.
Séverine eilte herbei und hob die Jüngere, einer nassen Katze gleich, an ihrem Kittelchen hoch. Sie stellte sie auf dem Fenstersitz ab, wo sie vor Verblüffung verstummte. Der Älteren legte sie die Hand auf den Kopf, bis sie den Mund zuklappte.
»So benehmen sich keine Edeldamen. Ich bin enttäuscht von euch«, hörten sie sie sagen.
»Sie hat angefangen …«, sagte Marguerite weinerlich, das Gesicht an Séverines Schulter gelehnt.
»Sie hat meine Mühle kaputt gemacht«, verteidigte sich Jeanne.
Gespannt warteten die beiden Männer auf Séverines Reaktion. Wie würde sie die kleinen Furien zähmen?
»Wer nicht gemeinsam spielen kann, muss etwas anderes tun«, entschied sie sanft, aber unmissverständlich. »Holt eure Näharbeiten.«
Die Schwestern zogen lange Gesichter, wagten aber keinen Widerspruch. Sie respektierten Séverine.
Beim Anblick Séverines wurde Philippe jedes Mal schmerzlich an seine Frau erinnert, obwohl sie ihr Haar unter Leinenhauben verbarg und schlichte Kleider trug. Er war ihr unendlich dankbar, dass sie die Kinder mit so viel Zuneigung umgab. Sie verstand es, liebevoll und gleichzeitig energisch zu sein, wie die Szene soeben bewiesen hatte. Dennoch rief sie ihm den persönlichen Verlust Jeannes auf besondere Weise in Erinnerung.
Adrien war auf andere Weise berührt.
Er hatte sich erst vor wenigen Tagen strikt geweigert, auch nur eines der Mädchen, die sein Vater gerne als seine Braut gesehen hätte, als Herrin von Faucheville in Erwägung zu ziehen. Danach war es wieder einmal zu einer jener Auseinandersetzungen gekommen, die ihn davon abhielten, die Gesellschaft seines Vaters öfter als unbedingt notwendig zu suchen. Ihm war klar, dass er die Entscheidung nicht mehr lange aufschieben konnte.
Adrien fühlte Philippes Hand an der Schulter und folgte seinem stummen Befehl, sich zurückzuziehen. Sie hatten nicht damit gerechnet, das Sonnenzimmer als Kinderzimmer vorzufinden. Auf der Suche nach einem Ort, wo sie unter vier Augen sprechen konnten, war Philippe dieses Zimmer eingefallen. Jeanne liebte es besonders, und es wäre sicher frei, hatte er gedacht.
Schließlich saßen sie sich im Wohnraum des Hausherrn gegenüber.
»Was ist mit dir? Gibt es Ärger?«, fragte Philippe beim Anblick von Adriens Miene.
»Nicht im Haus«, beruhigte er ihn. »Ich musste nur an meinen Vater denken. Er verfolgt mich ständig mit Heiratsplänen. Man
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