Turm der Lügen
Gespräch geklärt zu werden. Er würde sich nicht abschrecken lassen.
»Ich habe Gerüchte vernommen, dass der König die Frauen im Wehrturm von Château Gaillard gefangen hält«, fuhr Philippe fort, ohne sich um sein Schweigen zu kümmern.
Die Mitteilung riss Adrien blitzartig aus seinen persönlichen Illusionen. Die Zitadelle von Gaillard, die mit ihren Türmen und Wehrgängen, eindrucksvoll hoch über der Seine lag, beherrschte die Normandie westlich von Paris. Von Richard Plantagenet errichtet, hatten die französischen Truppen sie vor gut einhundert Jahren von den Engländern zurückerobert. Mit doppelten Ringmauern geschützt, stand sie auf einem Felssporn über dem Fluss. Ein militärischer Zweckbau ohne Komfort, ausschließlich dazu errichtet, sich vor Feinden zu schützen.
»Das kann er ihnen nicht angetan haben.« In Adriens Ausruf schwang Entsetzen.
»Ich möchte, dass du Einzelheiten in Erfahrung bringst. Du bist der Einzige, den ich dorthin schicken kann. Ich werde verbreiten, dass ich dich in meine Grafschaft nach Poitiers gesandt habe, um die Ernte und meine Einkünfte zu überprüfen. Die Lage auf dem Land ist so verheerend, dass Maßnahmen gegen die drohende Hungersnot ergriffen werden müssen. Niemand wird also Verdacht schöpfen.«
Adrien warf einen Blick zum Fenster. Obwohl die Regenwolken den genauen Sonnenstand nicht erkennen ließen, sah er, dass es zu spät war, um noch heute aufzubrechen.
»Ich reite morgen bei Tagesanbruch. Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte er. »Weißt du, wer die Festung befehligt und wie viele Bewaffnete dort stationiert sind?«
»Du triffst auf eine Kompanie Bogenschützen und einen Burghauptmann. Du weißt, dass mein Vater dort auch Staatsverräter einkerkert, die von der Welt vergessen werden sollen. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass er Frauen dorthin verbannen würde.«
Er brach ab, die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ich kann dir keinen offiziellen Auftrag geben«, fuhr er nach kurzer Pause fort. »Du bist auf deinen Scharfsinn und deine Fähigkeit zur Improvisation angewiesen. Um etwas zu erfahren, wirst du nötigenfalls nachhelfen. Mit Gold. Die Truppen des Königs erhalten ihren Sold nicht regelmäßig. Nimm diesen Beutel hier.«
Adrien nahm die Börse entgegen und wog sie prüfend in der Hand. »So schwer?«
»Es sind in erster Linie kleine Münzen. Ein Burghauptmann, der mit Goldstücken um sich wirft, erregt nur Verdacht.«
»Du hast an alles gedacht.«
»Noch etwas … Du kannst dir meiner Dankbarkeit gewiss sein, obwohl ich – wie schon gesagt – die Welt nicht auf den Kopf stellen kann.«
Dem gab es nichts hinzuzufügen.
* * *
Ein Luftzug hatte die Stundenkerze gelöscht, als Séverine die Augen aufschlug. Sie lauschte beunruhigt in die Dunkelheit.
Hellwach setzte sie sich auf, warf den dicken Zopf über die Schulter, zu dem ihr Haar nachts gebändigt war, und versuchte herauszufinden, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Dass sie keine Antwort darauf fand, trieb sie aus dem Bett.
Die immer größere Verantwortung, die sie für die Kinder übernehmen musste, ließ sie als Erstes nach ihnen sehen. Im Dunkeln warf sie Hemd und Gewand über und schlüpfte in die Schuhe.
Der Schlafraum der Mädchen besaß eine Tür zu ihrer Kammer. Wie üblich brannte ein kleines Nachtlicht, so dass sie sich einen schnellen Überblick verschaffen konnte. Die Amme, die auf dem Kastenbett neben Bellas Wiege schlief, bewegte sich im Rhythmus ihrer Schnarchtöne. Jeanne und Marguerite bildeten im Alkoven das übliche Knäuel. Sie fanden nur Ruhe, wenn sie die Gegenwart der anderen spürten. Sosehr sich alle bemühten, sie im Glauben zu wiegen, alles sei in bester Ordnung, so sicher spürten sie die Bedrohung, die über der ganzen Familie lastete. Sie gaben sich gegenseitig Schutz.
Séverine schlich auf Zehenspitzen näher und zog die Decke über den Schwestern höher. Ihre Nichten. Das Wissen um diese Verwandtschaft vertiefte ihre Zuneigung mit jedem Tag.
Obwohl es sie drängte, die Kinder zu küssen, tat sie es nicht. Sie fürchtete, ihren Schlaf zu stören.
Lautlos zog sie sich in ihr Gemach zurück und verließ es durch eine zweite Tür, die auf den Gang hinausführte. Inzwischen bargen die zahllosen Stockwerke, Stiegen, Abzweigungen und Galerien des großen Palastes keine Geheimnisse mehr für sie. Selbst im Dunklen fand sie sich zurecht.
Es gab im
Hôtel d’Alençon
nur einen beruhigenden Zufluchtsort
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