Turm der Lügen
für sie. Es drängte sie zum Stall, wo sie Mars finden würde.
Er begrüßte sie mit leisem Schnauben. Seine weiche Schnauze stupste auffordernd gegen ihre Schultern.
»Tut mir leid.« Sie wusste, was er wollte. »Keine Rüben heute, Mars.«
Die Arme um seinen Hals gelegt, schloss sie die Augen. Mars war ein Stück Zuhause in dieser großen Stadt. Ein Stück Faucheville. Ein Stück Heimat.
Er versteht, was in mir vorgeht,
war sich Séverine sicher. Auch er musste sich nach den weiten Wiesen von Faucheville sehnen. Nach dem Wind in seiner Mähne und dem weichen Waldboden unter seinen Hufen. Sie waren beide nicht für Paris geschaffen, aber man ließ ihnen keine Wahl.
Innig schmiegte Séverine sich an das gewaltige Streitross. So ließ sich die kalte, fremde Welt aus dem Bewusstsein verdrängen. Der warme Pferdeleib gab Trost, und das leise Schnauben des Rappen übertönte die nächtlichen Stallgeräusche. Auch die Schritte, die sich vom Eingang her näherten.
Der energische Griff, mit dem Adrien sie aus der Reichweite des Pferdes zog, überraschte Séverine so sehr, dass sie aufschrie.
»Lass mich … Adrien!«
»Eben der«, bestätigte er grimmig. »Was hast du mitten in der Nacht im Stall zu suchen? Noch dazu bei Mars?«
»Er stammt aus der Zucht von Faucheville. Vor ihm muss ich mein Heimweh nicht verbergen.«
»Du bist einfach zu leichtsinnig!« Besorgnis färbte seine Stimme. »Mars ist ein Destrier. Ein perfekt ausgebildetes Streitross. Eine Kampfmaschine, gefährlicher als eine Waffe, wenn es darauf ankommt. Eine falsche Bewegung, und du landest zwischen seinen Beinen. Ein Huftritt von ihm, und du bist tot.«
Seine Ermahnung klang für Séverine absurd. Kein Tier aus Faucheville würde sich je gegen sie wenden. Sie machte sich von ihm los und bemerkte, dass er einen schweren Reitumhang trug. Ein Mantelsack hing über seiner Schulter.
»Du verlässt die Stadt? Nachts? Was ist geschehen, dass du mich allein lässt?«
»Beruhige dich. Du musst nicht immer gleich das Schlimmste annehmen, wenn du etwas nicht auf Anhieb verstehst.«
»Wundert dich das?«
»Es gibt keinen Grund zur Sorge. Philippe hätte dir Bescheid gegeben. Ich glaubte, es sei schon zu spät, dich heute zu benachrichtigen.«
»Philippe.« Séverine schnaubte ähnlich wie Mars. »Er hält Abstand von mir, als litte ich an Aussatz. Reitest du in seinem Auftrag?«
»Ich reite nach Château Gaillard, aber außer uns darf keine Menschenseele davon wissen. Den kursierenden Gerüchten zufolge hat der König seine Schwiegertöchter dort einkerkern lassen. Ich muss herausfinden, ob das stimmt.«
Sie suchte zögernd nach Worten. Zwischen Erleichterung und Sorge hin- und hergerissen. »Ich hatte schon Angst, dass du uns für immer verlässt.«
»Und da nimmst du an, dass ich in der dunkelsten Nacht mein Pferd sattle und mich ohne jede Erklärung auf und davon mache? Eine schöne Meinung hast du von mir. Bei Gott, ich glaubte, du hieltest mehr von mir.«
»Du missverstehst mich«, verteidigte sich Séverine. »Du weißt, dass ich dir nicht misstraue. Aber ich bin nur in dieser Stadt, weil du mich hierhergebracht hast. Wer kümmert sich hier um mich, wenn du nicht da bist? Philippe redet nicht mit mir. Er schätzt meine Dienste, aber nicht meine Person. Das spüre ich genau.«
»Er schaut dich an und sieht Jeanne vor sich.«
Der Einwurf konnte Séverine nicht milder stimmen. »Das ist nicht meine Schuld. Ich bin es leid, auszulöffeln, was andere sich eingebrockt haben.«
Sie staunte selbst darüber, dass sie, im Dämmerlicht des Stalles, die Dinge plötzlich so schonungslos beim Namen nannte.
»Ich bin in zwei bis drei Tagen wieder zurück, dann sind wir klüger«, antwortete Adrien schließlich betont ruhig, ohne direkt auf ihre Vorwürfe einzugehen. Er zog sie weiter aus Mars’ Reichweite und ergriff ihre Hände. »Du solltest um diese Zeit im Bett liegen. Was raubt dir den Schlaf?«
Séverine sah ihn enttäuscht an. »Hast du eigentlich eine Ahnung von meinem Leben? Verschwendest du auch nur einen Gedanken daran? Ich bin eine Gefangene. Nur zwischen meinem Gemach und den Räumen der Kinder darf ich mich frei bewegen. Außer mit Jacquemine und den Kindern spreche ich mit keinem Menschen. Nachts im Dunkeln schleiche ich mich heimlich vor die Tür, um überhaupt einmal ins Freie zu kommen. Oft kann ich vor Verzweiflung und Ratlosigkeit nicht schlafen.«
»Trotzdem darfst du dein Leben nicht in Gefahr bringen.«
»Nennst du das
Weitere Kostenlose Bücher