Turm der Lügen
gewinnen.
»Großmutters Ehrendamen. Ich habe sie in der Halle belauscht. Sie sprachen von Mama. Ich wollte hören, ob sie wissen, wo sie ist und wann sie kommt. Ich weiß, das man nicht lauschen soll, aber ich musste es tun.«
Sollte Séverine sie tadeln? Zu gut konnte sie sich aus eigener Erfahrung daran erinnern, wie beunruhigend es war, nichts zu wissen. Voller Verständnis fasste sie nach Jeannes Hand und rieb ihr die eiskalten Finger.
»Was hat Mama dem König getan?«
»Nichts Schlimmes.«
Séverine musste antworten. Sie durfte das Kind mit seinen Fragen und Ängsten nicht allein lassen.
»Nichts Schlimmes. Das schwöre ich dir bei allem, was uns heilig ist, Jeanne. Sie hat einen Fehler gemacht. Einen Fehler, der den König sehr erzürnt hat. Es muss Zeit vergehen, damit er ihr verzeiht. Denk daran, wenn du zum Beispiel Streit mit deiner Schwester hast, bist du auch lieber für dich, weil dich schon Marguerites Anblick ärgert. Du magst sie dann einfach für kurze Zeit nicht mehr. So geht es dem König mit deiner Mama gerade. Und weil er der König ist, muss man seinen Zorn respektieren und die Zeit der Ungnade ertragen. Schon bald wird er einsehen, dass Eure Mama gar nichts Böses wollte. Dann wird er alles vergessen, und sie kann wieder bei uns sein.«
Die beruhigenden Worte taten eine gewisse Wirkung, konnten aber die nächste, misstrauische Frage nicht verhindern.
»Wann wird das sein? Wann wird Mama wieder bei uns sein?«, wollte Jeanne wissen.
»Du musst Geduld haben. Am besten vergisst du, was du gehört hast. Das meiste ist bei solchem Gerede immer dummer Tratsch.« Besseres fiel Séverine nicht ein.
»Was hat Mama eigentlich getan?« Jeanne besaß die Hartnäckigkeit ihres Vaters und ihrer Großmutter. »Hat es etwas mit Tante Marguerite und Tante Blanche zu tun? Sie waren so lange nicht mehr bei uns. Sind sie etwa auch in Ungnade beim König?«
Was sollte sie darauf antworten? Séverine sah zu Jacquemine, die stumm den Kopf schüttelte. Dennoch brachte sie keine Lüge über die Lippen.
»Ich fürchte, ja.«
»Dann kommt Mama niemals wieder.«
Jeanne warf sich erneut in Séverines Arme und begann hemmungslos zu schluchzen. Sie ließ sich durch nichts beruhigen. Sie weinte so laut, dass Marguerite, die im Nebenraum bei Bella und der Amme gespielt hatte, herbeigelaufen kam. Den Daumen im Mund, starrte sie ihre Schwester entsetzt an.
»Hast du dir weh getan?«
Die dünne Piepsstimme drang in Jeannes Elend. Sie hob den Kopf, schniefte und wiederholte ihre unglückliche Klage, ehe Séverine es verhindern konnte.
»Mama kommt niemals wieder!«
»Du lügst!«
»Mama ist für immer fort.«
Die Schwestern schrien sich so laut an, dass Séverine ebenfalls die Stimme erheben musste. »Du lieber Himmel, hört auf. Streitet euch nicht.«
In der jäh einsetzenden Stille stand Marguerite wie erstarrt. Während Séverine die bebende Jeanne Jacquemine in die Arme schob, wirbelte deren kleine Schwester mit fliegendem Rocksaum jäh herum und schoss wie ein Blitz aus dem Zimmer. Bis Séverine reagieren und hinterherlaufen konnte, waren Gang und Treppe leer. Nicht einmal Schritte hörte sie.
Was sollte sie tun? Sie konnte nicht durch den Palast laufen und nach dem Kind suchen. Damit würde sie alle Bemühungen, ungesehen zu bleiben, zunichte machen. Wohin wandte sich ein kleines Mädchen in diesem riesigen Haus, wenn es verzweifelt war und nicht mehr ein noch aus wusste? Kannten die Kinder ein Versteck, wie sie es in Faucheville, im Heustock hoch über den Pferdeställen, gehabt hatte?
Wenn das jemand wusste, dann nur Jeanne.
Es brauchte seine Zeit und viele beschwichtigende Worte, bis sie sich bereitfand, den Raum zu nennen, in dem sie beide heimlich Zuflucht suchten. Séverine fasste es kaum.
»Mamas Schlafkammer.«
Auch das noch. Philippe hatte Befehl gegeben, Jeannes persönliche Räume so zu pflegen, als käme sie jeden Augenblick zurück. Weder Jacquemine noch sie hatten bemerkt, dass sich die Kinder dort heimlich aufhielten. Wie war das möglich? Wann schlichen sie dorthin?
»Pater Clément beendet seine Lektionen manchmal früher, wenn wir ihn sehr darum bitten«, verriet Jeanne kleinlaut.
Die Gutmütigkeit des Priesters war bekannt. Unter Jeannes angstvoll fragendem Blick vermied Séverine jede Anklage gegen ihn. Sie würde mit ihm sprechen müssen. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun.
»Wir müssen Marguerite holen, ehe jemand sie dort findet. Komm schnell. Wie seid ihr nur auf eine
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