Turm-Fraeulein
gerettet. Wenn er schon sterben mußte, dann auf diese Weise. Immerhin hatte er jemandem etwas Gutes getan.
»Hau ab, Ungeheuer!« schrie die Vettel zornig. Grundy wunderte sich über die Bemerkung, als seine Hände langsam zu erschlaffen begannen; ein Ungeheuer war er ja wohl kaum!
Dann war es aus: Seine winzigen Finger lösten sich von dem Haar und er stürzte hinunter in die Nacht.
9
Flucht
Eine große behaarte Hand fing ihn auf und riß ihn an sich. Grundy versuchte sich zu wehren, er dachte, es sei die Vettel, doch dann merkte er, daß es sich um Snorty handelte. »Du hast mich aufgefangen!« rief er verblüfft.
»Na ja, wollte sowieso gerade nach oben kommen, um dich zu holen«, erwiderte das Bettungeheuer knurrig in Monstersprache.
Grundy verstummte. Er war völlig kraftlos vor Erleichterung. Er hatte geglaubt, daß er sterben würde, doch nun war er froh, noch unter den Lebenden zu weilen. Schließlich hatte er seine Queste ja noch nicht beendet! Das wäre sehr peinlich gewesen.
Snorty brachte ihn nach unten, wo Rapunzel bereits im fahlen Mondlicht wartete. Offensichtlich hatte dieser Notfall dazu geführt, daß sich das Bettungeheuer weniger aus diesem schwachen Licht machte. Rapunzel hatte Menschengröße angenommen und saß im Ruderboot der Vettel, denn nun hatte die Flut die Insel überschwemmt.
Doch Rapunzels Haar blieb noch immer an den Stuhl hoch oben im Elfenbeinturm geknotet, sie konnte nicht von hier fort! Außer…
Die Damsell holte eine Schere hervor. »Ach, es ist wirklich furchtbar, dies zu tun!« rief sie. »Aber…«
Aber welche andere Wahl hatten sie schon? Sie mußten noch vor dem Morgengrauen weiter!
Sie reichte Snorty die Schere. »Tu du es«, sagte sie zu dem Ungeheuer.
Snorty nahm die Schere mit einer großen behaarten Hand und grabschte mit der anderen nach ihrem Haar. Er hielt es straff vom Kopf abgewandt, hackte mit der Schere darauf ein und schon einen Augenblick später sah Rapunzels Haar kurz und struppig aus, während der Rest ihrer Zöpfe vom Turm herabhing. Es war vollbracht.
Vorsichtig berührte sie ihren Kopf. »Wie sehe ich aus?«
»Scheußlich!« sagte Grundy, ohne nachzudenken.
Rapunzel brach in Tränen aus. »Mein wunderschönes Haar!« heulte sie gequält.
Entsetzt huschte Snorty unter den Sitz.
Grundy tat das Herz weh, ein solch wunderschönes Wesen in Verzweiflung sehen zu müssen. Ihr Haar war zwar der reinste Albtraum, doch Rapunzel selbst blieb immer noch schön. Er mußte sie wieder aufrichten.
»Ich meinte…« fing er an.
»Ich weiß genau, was du meintest!« jammerte sie.
»Aber du warst doch so tapfer, es abzuschneiden!« sagte er.
Ihre Miene erhellte sich ein wenig. »War ich das wirklich?«
»Ihr glaubt wohl, ihr wärt davongekommen?« rief ihnen die Vettel von oben zu. »Nein, das seid ihr aber nicht! Ich komme nämlich runter.«
»Wir müssen sofort weg!« rief Grundy. »Rapunzel, du bist kräftig genug, um die Ruder zu betätigen…«
»Wage es nicht!« rief die Vettel. »Mädchen, du bleibst schön dort sitzen, bis ich dich holen komme.«
Rapunzel saß da wie gelähmt.
»Wir müssen abhauen!« rief Grundy. »Nun nimm schon die Ruder und rudere!«
»Ich kann nicht«, sagte Rapunzel in Tränen aufgelöst. »Die Süße Mutter hat es mir verboten.«
»Aber sie ist doch gar nicht deine Freundin!« erinnerte Grundy sie. »Sie will doch bloß deinen Körper haben.«
»Ich weiß. Aber trotzdem kann ich mich nicht direkt gegen sie stellen. Sie ist doch alles, was ich je gehabt habe.«
Grundy begriff, daß er es hier mit einem wirklich guten Menschen zu tun hatte. Obwohl sie nun die Tatsachen kannte, brachte Rapunzel es einfach nicht fertig, gegen jemanden zu handeln. Sie konnte die Person nicht verraten, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatte.
Inzwischen machte sich die Vettel daran, aus dem Fenster zu steigen. Offensichtlich hatte sie vor, an dem Haar herunterzuklettern, ins Boot zu springen, Grundy und Snorty über Bord zu schmeißen und die Damsell wieder hoch in ihr Zimmer im Elfenbeinturm zu bringen. Hatte sie Rapunzel erst wieder einmal gefangengenommen, so hätte die Vettel auch genug Zeit, um ihr einzureden, daß alles nur ein böser Traum gewesen sei, und so bekäme sie am Schluß dann auch den begehrten Körper.
Grundy mußte etwas dagegen unternehmen! Doch was? Er war einfach nicht groß genug, um mit den riesigen Rudern zurechtzukommen.
»Snorty, kannst du…?«
Doch dann verstärkte sich das Mondlicht plötzlich,
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