Turm-Fraeulein
ein wirklicher Mensch, so daß du eine Vorstellung davon bekommen kannst, wie das ist.«
»Nicht wirklich. Er ist ein Barbar aus einer Zeit vor vierhundert Jahren; an der Gesellschaft von heute hat er nie teilgenommen, weil er bei Threnodia bleibt, und die darf nicht auf Schloß Roogna.«
Weil der Fluch, der auf ihr lastete, für Schloß Roogna den Einsturz bedeuten würde. Offensichtlich hatten sich die Mädchen über viele verschiedene Dinge unterhalten. »Nun, wenn wir dich erst einmal aufs Schloß gebracht haben, wirst du die Gesellschaft der Menschen ja aus erster Hand kennenlernen.«
»Das stimmt«, sagte sie, doch es klang nicht sonderlich begeistert.
Inzwischen hatte Threnodia sich mit Jordan unterhalten, der bisher noch keine Gelegenheit dazu gehabt hatte, die Situation in all ihren Einzelheiten zu erfahren. Nun warf er Rapunzel einen Blick zu. »Hör mal«, sagte er, »du erinnerst mich an…«
»An ihre Elfenurahnin Glockenblume«, sagte Threnodia mit fester Stimme. Sie zwickte ihn in sein geheiltes Ohr. »Das ist für dich schon längst Geschichte, Barbar!«
Er lachte. »Glockenblume! Ja, das war wirklich eine prächtige… aua!« Denn Threnodia hatte ihr Zwicken in ein heftiges Kneifen gesteigert.
»Meinst du, daß irgend etwas dagegen spricht, daß ein Mensch ein Mischwesen heiratet?« fragte Rapunzel. Jordan zögerte. Wieder verpaßte Threnodia seinem Ohr ein Zwicken. »Nein, natürlich nicht«, sagte er hastig, und alle lachten.
Die Mahlzeit war ausgezeichnet. Rapunzel bestand darauf, dem Golem die Leckereien auszusuchen und ihm sogar den geringsten seiner Wünsche zu erfüllen. Schon bald fühlte sich Grundy vollgestopft. All dies gefiel ihm sehr gut – das Essen und die Bedienung. Doch nie wollte er vergessen, daß solche Freuden schon bald ihr Ende finden würden.
Am Nachmittag machten sie wieder Rast und bereiteten sich auf die Nacht vor. Diesmal hatten Grundy und Rapunzel das Bett zur Verfügung, und schliefen wieder händchenhaltend, obwohl offensichtlich keine unmittelbare Gefahr drohte. Auch Nachtmähren kamen nicht, was für sie bei Tag ohnehin schwierig gewesen wäre. Jordan und Threnodia machten einen Spaziergang und erkundeten zugleich die nähere Umgebung; sie schienen nicht soviel Ruhe zu benötigen wie Grundy und Rapunzel, vielleicht weil das Urwaldleben sie entsprechend abgehärtet hatte.
Als es dämmerte, rührte sich Grundy und stellte fest, daß Rapunzel noch immer schlief, auch seine Hand hielt sie weiterhin fest. Sie war ein solch schönes und freundliches Geschöpf, ob sie nun wach war oder schlief! Wenn sie doch nur ein Golem gewesen wäre…
Rapunzel erwachte. Ihre Augen öffneten sich, ihr Blick fiel auf ihn, und sie lächelte. »Komm her, Grundy«, sagte sie. »Ich möchte etwas Spontanes tun.«
Wider besseres Wissen beugte er sich über sie. Sie nahm ihn in die Arme, zog ihn an sich heran und küßte ihn.
»So etwas solltest du nicht tun«, sagte er schließlich, als sie ihn wieder losließ.
»Warum nicht?«
Diese unschuldigen, direkten Fragen! Wie sollte er die beantworten? Doch wieder mußte er es versuchen. »Du solltest dir deine Zukunft nicht mit einem Winzling wie mir verderben.«
»Hat sich Jordan seine Zukunft verdorben, als er mit Glockenblume anbändelte?«
Schließlich war sie die Nachfahrin dieser Verbindung! Natürlich sah sie darin nichts Falsches. Doch sollte das etwa heißen, daß sie in ihm das sah, was Jordan in dem Elfenmädchen gesehen hatte? Jemand, den man liebte, nur um ihn dann doch zu verlassen?
Er löste sich von ihr, stand auf und lief auf die Bettkante zu.
Rapunzel eilte ihm nach. »Grundy!« rief sie. »Habe ich etwas Falsches gesagt? Dann tut es mir leid!«
Nein, natürlich hatte sie nichts Falsches gesagt, jedenfalls nicht nach ihren eigenen Maßstäben. Er war es, der hier die Schwierigkeiten machte. Warum konnte er sie nicht einfach so akzeptieren, wie sie war, ihre Zuwendung genießen, solange sie vorhielt, und zufrieden sein, wenn sie endete?
Sie ergriff wieder seine Hand. »Ich möchte dir doch nur Freude machen, Grundy«, sagte sie, und die Augen begannen ihr schier überzulaufen. Sie wechselten auch ihre Farbe, wie es ihre Art war; im Augenblick verwandelten sie sich von purpur in blau. »Was mache ich falsch?«
»Nichts«, sagte er und erkannte, daß zum Teil Threnodia für die Probleme verantwortlich war: durch ihre Ratschläge in Sachen Raffinesse, ein Gebiet, auf das sich diese Frau mit Sicherheit gut verstand.
Weitere Kostenlose Bücher