Turm-Fraeulein
Gestalt zu verändern, so daß sie nach einer Stunde eine gespensterähnliche Sphinx war, durch welche die anderen hindurchgehen konnten, ohne ihr wehzutun. Dann nahm sie Vogelgröße an, wobei sich ihr Körper verfestigte. Diese Verwandlung dauerte eine weitere Stunde. Endlich wechselte sie in Vogelgestalt über und wurde zu einer Schwalbe, die natürlich sehr hoch und schnell fliegen konnte.
»Sie hat hart daran gearbeitet«, bemerkte Jordan nicht ohne Stolz. »Es ist keineswegs leicht zu fliegen, nur weil man Vogelgestalt hat, denn man muß immer erst lernen, wie das geht. Sie kann es zwar immer noch nicht so gut wie ein richtiger Vogel, aber es wird schon besser.«
Die Schwalbe breitete die Flügel aus und hob ab. Zwar wirkte sie ein wenig unbeholfen und geriet ins Torkeln, doch schließlich fing sie sich wieder und flog empor in den sternenübersäten Nachthimmel. Wenn der Ogersee sich hier in der Nähe befinden sollte, würde sie ihn mit Sicherheit erspähen!
Plötzlich erblickte sie eine größere Gestalt, die hinter der Schwalbe herflog. »Das ist ja ein Falke!« rief Jordan. »Hau ab, Renee!« Er nannte sie bei ihrem Spitznamen, der noch aus der Zeit stammte, als sie selbst ein Gespenst gewesen war.
Die Schwalbe flog einen Bogen und ging in den Sturzflug über, sie wollte zum Lager zurück, doch der Falke folgte ihr und versuchte sie abzufangen. »Hab ich dich endlich, du kleines Biest!« krächzte der Falke in Vogelsprache.
»Das ist die Seevettel!« schrie Grundy außer sich vor Entsetzen. Jordan holte seinen Bogen hervor und legte einen Pfeil ein.
»Du kannst jetzt doch unmöglich schießen!« protestierte Rapunzel. »Es ist dunkel, und sie sind in Bewegung; wenn du überhaupt etwas treffen solltest, dann höchstwahrscheinlich das falsche Ziel!«
Der Barbar aber kniff die Augen zusammen, streckte den Arm, und als der Falke die Klauen in die Schwalbe senkte und die Schwingen ausbreitete, um wieder an Höhe zu gewinnen, ließ er den Pfeil losschnellen. Beide Vögel stürzten zu Boden – doch die Schwalbe lebte noch, der Falke hingegen war tot.
»Welch ein erstaunlicher Schuß!« rief Rapunzel.
»Ich bin Barbar!« bemerkte Jordan knapp und steckte seinen Bogen weg. Dann ging er los, um die Schwalbe zurückzuholen.
Sie war verletzt. Die Krallen des Falken hatten ihren Körper durchbohrt und Muskeln und Gewebe beschädigt. Zwar schwebte sie nicht in Lebensgefahr, doch würde sie in dieser Nacht nicht wieder fliegen können.
Jordan schüttelte schmerzerfüllt den Kopf. »Sie kann sich nicht selbst heilen wie ich«, erklärte er. »Ich wollte doch nicht, daß sie verletzt wird!«
»Die Vettel hat einfach auf Zeit gespielt und ihre Chance abgewartet«, bemerkte Grundy. »Sie wollte Threnodia loswerden, weil sie uns das Reisen zu sehr erleichterte. Ich hätte darauf achten müssen.«
»Wir haben alle nicht nachgedacht«, versetzte Jordan knurrig.
So standen sie denn Wache, während Threnodia langsam wieder ihre normale Gestalt annahm. Wegen ihrer Verletzungen dauerte es die halbe Nacht, doch endlich lag sie wieder als Mensch da, mit Krallenwunden an Armen und Oberkörper.
Grundy wünschte, daß sie etwas Heilelixier bei sich hätten, doch das war ein teures und kostbares Zeug, und keiner von ihnen hatte es für notwendig gehalten.
»Ach, das wirkliche Leben kann ja so häßlich sein«, murmelte Rapunzel. »Fast wünschte ich mir…«
»Das ist es auch, was die Vettel sich wünscht«, erinnerte Grundy sie. »Daß du nämlich so niedergeschlagen und unglücklich wirst, bis du froh bist, wieder in den Elfenbeinturm zurückkehren zu dürfen.«
Sie reckte das Kinn wieder vor. »Niemals werde ich dorthin zurückkehren!« rief sie.
Den Rest der Nacht ruhten sie, da es keinen Zweck hatte, die Reise fortzusetzen, schon gar nicht angesichts Threnodias Verletzungen. Grundy und Rapunzel bestanden darauf, daß Threnodia das Bett benutzte, bis sich ihr Zustand wieder gebessert hatte. »Und wenn Snorty nach deiner Wade greifen sollte, mach dir keine Sorgen«, sagte Rapunzel zu ihr. »Er meint es nicht böse.«
»Und er hat einen guten Geschmack, was Waden angeht«, fügte Grundy hinzu.
Beide ließen sie sich in einem Nest aus hohem Gras nieder, das sie sich selbst anfertigten. Rapunzel hatte seit dem Eintreffen von Jordan und Threnodia nicht einmal wieder ihre Menschengröße angenommen. Sie blieb in Grundys Nähe und hielt stets seine Hand, wenn sie sich niederließen. Er wagte gar nicht zuzugeben, wie
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