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Turner 01 - Dunkle Schuld

Turner 01 - Dunkle Schuld

Titel: Turner 01 - Dunkle Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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Tulane war voll von reichen Ostküsten-Kindern, die keinen Platz an den anspruchsvollen, elitären Ivy League Schools bekamen, und armen Südstaatlern mit Stipendien. Die beiden Kleider verschwanden zuerst, kurz danach mein Akzent. Ich fand heraus, dass man in den meisten gesellschaftlichen Situationen nur still zu sein braucht und beobachten muss. Zucker? Zitrone oder Milch?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Bereits im zweiten Jahr war ich von den anderen nicht mehr zu unterscheiden. ›Tarnung tragen‹ nannte das ein Freund von mir. Ich beendete das Studium als eine der Besten des Jahrgangs und trat als sehr junge Junior-Partnerin in eine Kanzlei in Baltimore ein.«

    Sie stellte einen Becher vor mich hin, rücksichtsvoll, mit dem Sprung im Rand nach hinten gedreht.
    »Normalerweise schwatze ich nicht so drauflos.«
    »Kein Problem.«
    »Gut.« Sie setzte sich und nippte an ihrem Tee. »Vier Jahre war ich da oben - hab mit denen getanzt, die mich zur Party mitgenommen haben, wie mein Vater sagen würde. Ich mochte Baltimore, die Firma, meine Arbeit. Und ich war gut darin.«
    »Was hat sich verändert?«
    »Nichts. Etwas. Ich?« Sie lächelte. »Ich wollte es, ohnehin. Wollen wir je, wirklich?«
    »Uns verändern?«
    Nicken.
    »Wenn wir es nicht tun - oder nicht können -, ergibt alles andere keinen Sinn mehr, oder?«
    Sie stand halb auf, um uns Tee nachzuschenken. Ganz in der Nähe, direkt vor dem Fenster, schrie eine Eule.
    »Sie sind kein Polizist, oder?«
    »Schon lange nicht mehr. Ich war einer.«
    Sie wartete, und kurz darauf erzählte ich ihr das Wesentliche.
    »Ein weiteres Cliff-Notes-Leben.«
    »Ein was?«
    »Diese Zusammenfassungen und Exzerpte, die Studenten statt der Bücher selbst lesen. Viele von uns leben genau so. Fassen in ein paar groben Pinselstrichen zusammen, wer wir sind und zu was wir es gebracht haben, und tun dann unser Bestes, um daran festzuhalten. All die schönen Dinge, die Kleinigkeiten und Besonderheiten, die den Rest erst lebenswert
machen - Sonntagmorgen bei einem Kaffee sitzen und Zeitung lesen, der Geschmack von frisch gebackenem Brot, das Gefühl von Wind auf der Haut, den Menschen, den man liebt, neben sich zu wissen - all das wird zur Seite geschoben. Unbemerkt, verloren.«
    »Wenn wir es zulassen.«
    »Wenn wir es zulassen, stimmt. Und mehr als alles andere ist dies der Grund, warum ich hier bin.«
    Die Dunkelheit war inzwischen vollkommen. In der Ferne quakten Frösche. Ihre Schreie hüpften über den Teich hinter dem Haus, wurden verstärkt durch das Wasser, als wäre der Teich die Metallscheibe, zu dem das Mondlicht ihn machte. Motten flatterten gegen die Scheibe neben uns und gegen das Insektenschutzgitter der Küchentür.
    »Ich habe dreimal meine Waffe gezogen«, sagte ich. Gott weiß, warum ich ihr das erzählte. »Und jedes Mal ist jemand gestorben. Beim zweiten Mal, ich erinnere mich, hat es geregnet. Sein Blut rann die Straße runter. Ich war dort auf der Straße, mit seinem Kopf in meinem Schoß. Und die ganze Zeit dachte ich immer wieder: Meine Kinder sind zu Hause und warten auf mich.«
    »Kinder?«
    »Ein Junge und ein Mädchen. Sie sind ohne mich aufgewachsen, führen jetzt ihr eigenes Leben. Wahrscheinlich besser so … Die Sache ist die, dort auf der Straße, auf eine seltsame Art und Weise, war ich diesem Fremden, der da starb, den ich erschossen hatte, näher, als ich es jemals in meinem Leben einem Menschen gewesen bin.«
    Eine Weile war sie still. Wir beide waren es.
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

    »Sie müssen gar nichts sagen.«
    »Plötzlich wirkt alles in meinem Leben so klein und unbedeutend.«
    »Unsere Leben sind klein und unbedeutend.«
    Sie nickte. »Ja, das sind sie wohl, nicht wahr?«
    Ich folgte ihr nach draußen auf die Veranda.
    »Ich nehme nicht an, dass Sie hungrig sind?«
    »Nicht wirklich.«
    »Anscheinend bin ich’s immer. Kaufe kistenweise Popcorn, esse Möhren, bis ich selbst schon orange werde und aufhören muss, kaue Sellerie, bis mir die Zähne wehtun.«
    Wir standen da und schauten zum Himmel auf.
    »Was war mit dem dritten Mal?«
    »Als ich meine Waffe zog?«
    »Ja.«
    »Bei dem Mal war es mein eigener Partner.«
    »Oh.«
    »Dazu gibt es noch viel zu sagen.«
    »Das denke ich mir.« Sie blickte zu den Bäumen hinaus. »Hören Sie.«
    Das tat ich, und für diesen einen perfekten Moment umgab uns die Stille, die absolute Stille, Stille von einer Art, die der größte Teil der Welt und seine Menschen vergessen haben.

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