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Turner 01 - Dunkle Schuld

Turner 01 - Dunkle Schuld

Titel: Turner 01 - Dunkle Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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Adrian.
    Jahre später warf mir Lonnie Bates vor, viel zu viel Energie darauf zu verwenden, mich von dem Mann zu distanzieren, der ich einmal war. Vielleicht hatte er Recht, vielleicht habe ich aber auch schon immer versucht, von diesem Mann wegzukommen. So als bliebe immer ein Teil von mir in dieser Zelle, oder ein anderer Teil sitzt da mit dem Kopf eines Mannes auf dem Schoß, beugt sich über ihn, während hellrotes Blut im Regen die Straße hinunterfließt. So wie ein Teil von mir immer dort über dem Partner stehen wird, den ich gerade erschossen hatte.
    Erstaunlich, wie statisch Erinnerung ist und der größte Teil unseres Lebens um eine Handvoll Bilder kreist.
    Adrian erzählte mir einmal von afrikanischen Musikern, mit denen er immer spielte. Wenn die Stücke zu vorhersehbar wurden, zu ausgearbeitet und zu wiederholend, ermahnten sie ihre Kollegen, »etwas Verwirrung reinzubringen«.
    Ich hatte nie beschreiben können, wie es war, einen Menschen zu töten. Sich an die Tat selbst zu erinnern, ist einfach. Da ist er, drei Duschköpfe entfernt, das Messer Marke Eigenbau verstohlen an sein Bein gehalten, jetzt kommt er auf mich zu, jetzt weicht er ein Stück zurück, versucht zu reden mit der Zunge, die an seinen Gaumen geheftet ist,
doch alles, was rauskommt, sind animalische Laute. All das ist sehr lebendig. Auch für ihn lebendig, da bin ich sicher, für einen Augenblick in diesen letzten Momenten seines Lebens. Irgendetwas mit Substanz oder Gewicht sollte da sein, eine Art Offenbarung, würde man meinen, so was muss einfach da sein. Aber da ist nichts. Du siehst, wie das Licht in seinen Augen schwindet, du schaust dich um, weil du wissen willst, wer das mit angesehen hat, du stehst auf und machst einfach weiter. Du hast nichts gelernt. Der Tod ergibt nicht mehr Sinn als der ganze Rest. Du bist am Leben. Er nicht. Das ist es, was du weißt.
    Zellengenosse Adrian war ein Mann um die vierzig von zweifelhafter ethnischer Abstammung. Europide, negride und asiatisch-amerindische Elemente zusammen in einen Topf geworfen und eingekocht. Er selbst bezeichnete sich gern als Octoroon oder Achtel-Afroamerikaner, ein Mensch der vierten Generation farbiger Herkunft. »Bei mir müssen noch viel mehr Roons in der Mischung sein«, sagte er immer, »aber zu Hause haben wir nie weiter gezählt als bis acht.« Auch geschlechtlich war er ein Rätsel: Ein muskelbepackter Körper und ein fester, gerader Gang, aber wenn er sprach, machten seine Arme und Hände weiche, fließende Bewegungen, und er klimperte kokett mit den Wimpern. Fünf Wochen nach seiner Ankunft war das allerdings kein Gesprächsthema mehr gewesen. Einer von denen, die gemeint hatten, dazu ihren Senf abgeben zu müssen, lief heute mit einem auf ewig deformierten Schädel herum, weich wie eine Melonenschale, nachdem Adrian ihn mit sechs in einen Kopfkissenbezug geknoteten Batterien (die er sich in der Werkstatt aus Geräten
und Werkzeug besorgt hatte) in die Mangel genommen hatte.
    »Hab gehört, du bist ein Bulle«, meinte er an unserem ersten gemeinsamen Abend. Ich hatte vor ihm bereits zwei andere Zellengenossen. Keiner hatte lange durchgehalten.
    »Jetzt nicht mehr. Hier drinnen gibt’s nicht viele Bullen, schätze ich mal so.«
    Er lachte. »Gar nicht genug Platz für alle, die hier drin sein sollten.«
    Ein Wärter ging die Zeilenreihe entlang, ließ seinen Gummiknüppel über die Stangen streifen, um sein Kommen rechtzeitig anzukündigen.
    »Der Mann, den du umgelegt hast, war das ein Freund?«, fragte Adrian, als der Wärter vorbei war.
    »Ja.«
    »Bist gar nicht überrascht, dass ich das weiß.«
    »Bin in einer Kleinstadt aufgewachsen.«
    »Eine Kleinstadt. Ja, Mann, genau das ist das hier auch, stimmt.«
    Drei oder vier Zellen weiter schluchzte ein Mann.
    »Armer Dreckskerl«, sagte Adrian. »Jede verdammte Nacht. Könnte aber sein, dass du hier drinnen klarkommst. Wie heißt du, Junge?«
    Er musste es eigentlich längst wissen, aber ich sagte es ihm trotzdem. Ausschließlich von denen bevölkert, die sich nicht an die Gesetze der Gesellschaft und ihre sozialen Normen anpassen können, gibt es in Gefängnissen stillschweigende Verhaltensregeln, die selbst traditionsgebundene Südstaatler, Briten oder Japsen in den Schatten stellen.

    »Adrian«, sagte er, »aber die meisten nennen mich Backbone, Rückgrat. Wir suchen uns hier selbst einen Namen aus, oder wenn man’s nicht tut, tun’s andere für einen. Hier drinnen sind wir nicht mehr, zu was die Welt

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