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Turner 01 - Dunkle Schuld

Turner 01 - Dunkle Schuld

Titel: Turner 01 - Dunkle Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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geht’s?
    »Sie sagt, ihr Junge wäre zurück. Hätte ihre Hühner zum Essen gefangen und umgebracht, weigere sich aber, mit ihr zu reden oder sie in seine Nähe kommen zu lassen. Wie lange brauchst du ungefähr?«
    Bin schon halb da, bin jetzt etwa auf Höhe der Müllkippe. So in zwanzig Minuten, höchstens.
    »Okay, ich ruf sie dann an und sag ihr Bescheid.«
    »Als ich noch ein Junge war«, sagte ich, nachdem sie den Anruf gemacht hatte, »lebte bei der Familie meiner ersten richtigen Freundin ein Cousin. Ungefähr seit er zwanzig war, war’s in seinem Leben nur noch steil bergab gegangen. Als Assistent des Geschäftsführers in einem der größten Bekleidungsgeschäfte der Gegend fing er an, und als Hausmeister in der Grundschule hörte er auf - bis er auch dort gefeuert wurde. Seine eigene Familie setzte ihn vor die Tür, als sie ihn im Kinderzimmer vor dem Bettchen stehend antrafen. Die Mutter meiner Freundin nahm ihn dann auf. Cissie und ich saßen zum Beispiel vor dem Fernseher, und als wir aufschauten, war er dann auf einmal da, stand drüben vor dem Herd und redete mit ihm oder folgte stundenlang der Katze von Zimmer zu Zimmer durchs ganze Haus.«
    »Mit Velmas Junge läuft’s schon nicht mehr richtig, seit er zwölf wurde. Das Gericht schickt ihn ständig fort. Offene Heime, Berufsschulen, staatliche Psychiatrien. Früher oder später lassen sie ihn wieder gehen, oder er läuft weg, und dann taucht er regelmäßig wieder hier auf. Die meiste Zeit lebt er oben in den Bergen. Er müsste heute so um die fünfunddreißig, vierzig Jahre alt sein.«

    »Wir entfernen uns alle nie zu weit von der Höhle.«
    »Was ist dann passiert?«, fragte June nach einer Weile.
    »Wie’s eben so ist. Ich bin irgendwann weg aufs College, habe fast täglich lange, leidenschaftliche Briefe geschrieben. So ungefähr im zweiten Semester fiel mir dann auf, dass ich immer weniger und seltener Antworten erhielt, die obendrein ständig kürzer ausfielen.«
    »Ich meinte, mit dem Cousin.«
    »Oh … tja, eines schönen Abends, er hieß übrigens Ben, also, eines Abends schaffte Ben es, den Riegel der Verandatür aufzubekommen, und er schlenderte einfach fort. Am Morgen darauf setzte die Mutter meiner Freundin aus der Zufahrt ihres Hauses zurück, wollte sich umsehen in der Hoffnung, Ben oder doch wenigstens eine Spur von ihm zu finden, na ja, und dabei hat sie dann ihren kleinen Sohn überfahren, den kleinen Bruder meiner Freundin.«
    »Hat er überlebt?«
    »Das ist eine Definitionsfrage. Er war am Leben.«
    »Sind Sie immer so fröhlich und optimistisch, Mr. Turner?«
    »Sie haben mich noch an einem guten Tag erwischt.«
    »Da bin ich ja ein richtiger Glückspilz, was?« Sie beugte sich vor, um das Radio einzuschalten. Offensichtlich sollte das Country sein, war aber dennoch Welten entfernt von Riley Puckett oder einem Ralph Stanley. »Sie haben bestimmt viele Rendezvous, oder?«
    »Genug.«
    »So allein auf weiter Flur, wie Sie hier sind, da schätze ich mal, haben Sie wahrscheinlich die freie Auswahl.«
    Schweigend saßen wir nebeneinander. Das Telefon klingelte.
June meldete sich, hörte einen Moment zu und legte wieder auf. I’ve looked and looked in all the bars, all the old places - aus dem Radio, primitive Blues-Gitarre im Hintergrund.
    »Sarah ist eine gut aussehende Frau.«
    »Das ist sie.«
    »Meinen Sie, da könnte was laufen?«
    »Wie, was laufen?«
    »Zwischen Ihnen beiden.«
    »Dafür ist’s schon ein bisschen spät im Leben, oder? Wenn man jung ist, birgt jede zufällige Begegnung eine Fülle von Möglichkeiten. Man bezahlt sein Sixpack im 7-Eleven, und es funkt zwischen dir und der Frau an der Kasse. Man glaubt, so würde es bis in alle Ewigkeit weitergehen.«
    June nickte.
    »Tut’s aber nicht. Ehe man sich versieht, wird es zu den Hirngespinsten, die sie im Grunde schon immer waren. Irgendwer hat die Kordel an der großen Wundertüte zugezogen. Alles ist zu Tapete geworden.«
    »Ich bin da kein Experte, aber so wie Sie aussehen, also, ich weiß nicht, ich würde sagen, ein paar gute Jahre haben Sie aber mindestens noch vor sich.«
    Wir lachten beide.
    »Daddy sagt, Sie haben als Therapeut gearbeitet. Haben Leuten dabei geholfen, solche Dinge selbst herauszufinden.«
    »Es gab eigentlich nie viel herauszufinden. In neunundneunzig von hundert Fällen wissen die Menschen schon ganz genau, was los ist. Sie wissen, was richtig ist, sie wissen genau, was sie brauchen und warum sie etwas so tun, wie sie es

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