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Turner 02 - Dunkle Vergeltung

Turner 02 - Dunkle Vergeltung

Titel: Turner 02 - Dunkle Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Minuten Zeit?«
    Ich ging mit und stand neben ihm, als er den Geburtsvorgang für sie erleichterte, indem er sie sanft streichelte und mit einem Finger dem ersten von insgesamt fünf Kätzchen heraushalf. Nein, nicht fünf: sechs. Denn lange nachdem die ersten in unsere Welt geplumpst waren, erschien noch ein weiterer winziger Kopf.
    Dieses letzte Kätzchen hatte nur eine Vorderpfote, und auch mit seinem Schädel stimmte etwas nicht. Lou Winter hielt es liebevoll in der Hand und sagte: »Sie wird’s nicht annehmen, aber versuchen müssen wir es, oder?«, während er die anderen beiseiteschob und das neue ganz nah an die Mutter legte.

    »Ich hole meine Sachen.« Eine graue Windjacke. Eine Sporttasche, die, wie ich später erfuhr, Zahnbürste und Zahnpasta enthielt, ferner ein Notizbuch und eine Schachtel mittelharte Bleistifte, mehrere Waschlappen, sechs Paar weiße Socken noch mit Papierbanderole und eine broschierte Ausgabe der Bibel. »Ich schließ nur noch ab.« Er nahm ein Pappschild - »Bin sofort zurück« - von einem Haken an der Wand und hängte es an die Tür. »Marcie kommt nach dem Sport her. Müsste jeden Moment hier sein.«
    Er hat nie gefragt, wie ich ihn gefunden habe, zeigte nie auch nur die geringste Überraschung.
    Nachdem wir den Laden verlassen hatten, bemerkte ich, dass er unbeholfen oder unsicher wirkte, dicht bei mir blieb, das Gesicht in angespannter Konzentration verzogen. Er litt unter Makula-Degeneration, wie ich später erfuhr. Wie viele Menschen, die unter allmählichen körperlichen Funktionsverlusten leiden, hatte er Kompensationsmaßnahmen ergriffen, sich seine Umgebung eingeprägt und Strategien entwickelt, weiterhin zu funktionieren. Doch im Grunde war Lou Winter mehr als nur halb blind.
    Vor dem Revier trat ein Mann in einem teuren Anzug und mit Schuhen, die ungefähr das Gleiche gekostet haben mussten wie der Anzug, auf uns zu und stellte sich als Mr. Winters Anwalt vor. Er und Winter sahen sich einen Moment lang an, dann nickte Winter.
    Und das war Herb Danziger.
    Jahre später, nachdem wir so etwas wie Freunde geworden
waren, fragte ich Herb, wie es dazu gekommen war, dass er an diesem Tag dort auftauchte. »Ich habe einen Tipp bekommen«, antwortete er. »Einen anonymen Anruf.« Lächelnd fügte er hinzu: »Oder glaubst du vielleicht, ein Anwalt würde seinen eigenen Mandanten anzeigen?«
    Im Revier wies Lou Winter alle Ermahnungen und Ratschläge, die Danziger ihm gab, von sich und erzählte uns alles. Von den vier Kindern, was sie zusammen gegessen hatten, welche Filme sie sich gemeinsam angesehen hatten, die Grabstätten. Der für die Polizei tätige Psychiater Dr. Vandiver kam gegen Ende der Vernehmungen vom Baptist Hospital zu uns rüber.
    »Was denken Sie, Doktor?«, fragte Captain Adams. Vandiver starrte aus dem Fenster. »Ich versuche jetzt schon eine ganze Weile, es in Worte zu fassen«, sagte er schließlich. »Das einzige Wort, das mir einfällt, ist Traurigkeit.«
    Die Geschworenen brauchten keine dreißig Minuten, um mit einem Urteilsspruch zurückzukehren, und der Richter gerade mal zwei, um Lou Winter zum Tode zu verurteilen.
    Herb setzte in Winters Namen jedes nur erdenkliche Rechtsmittel gegen das Urteil ein, bis zu dem Tag, an dem er angegriffen wurde. Selbst danach versuchte er noch ein Mal, ihn zu vertreten. Aber als er an der Reihe war, saß Herb nur da und verfolgte das ewige Kreisen der Flügel des Deckenventilators, offenbar fasziniert von den Schatten, die sie warfen. Der Richter vertagte
den Prozess um eine Woche und benannte einen neuen Anwalt.
    Nach dem Telefonat mit Herb legte ich den Hörer auf. Wolken rasten über den Himmel, als ob sie sich verhaspelt hätten und nun so schnell wie möglich die Bühne verlassen wollten. Gegenüber auf der anderen Straßenseite ragten Terry Billings Beine unter seinem Pick-up hervor, an dessen Getriebe er bereits zum dritten Mal in diesem Monat herumschraubte, um ihm noch ein paar weitere hundert Meilen abzuringen.
    Ich dachte über Herb nach, über Lou Winter und erinnerte mich, was Dr. Vandiver so untypischerweise gesagt hatte.
    Traurigkeit.
    Er meinte nicht sich. Er meinte die Kinder. Oder uns alle. Auf seine eigentümliche Art war Lou Winter mit den Menschen verbunden wie nur wenige von uns, aber die Verbindung war heftig gestört. Kleine Kabel waren gerissen, Funken sprühten an den Kontaktstellen.
    Am Anfang hatte ich mir nichts mehr gewünscht als Lou Winters Verurteilung und seine Hinrichtung. Doch jetzt

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