Turner 02 - Dunkle Vergeltung
die Zeit dazu haben, die rechnergestützten Akten zu sichten - dass der per Haftbefehl landesweit gesuchte Billyboy Davis zum wiederholten Male vom U. S. Marshals Service gefasst worden ist. Mit anderen diskutieren wir ewig und drei Tage über Gerechtigkeit und gesellschaftliche Normen. Wenn wir unter uns sind, unterhalten wir uns auf deutlich niedrigerem Niveau.
Aus diesem Leben bin ich nun seit langem raus. Aber vor einigen Wochen hatte mich oben in Memphis Herb Danziger ausfindig gemacht und mir am Telefon mitgeteilt, dass für Lou Winter jetzt die Hinrichtung anstünde, nachdem er alle Möglichkeiten einer Berufung ausgeschöpft hatte.
Danziger war Lou Winters Pflichtverteidiger in seinem ersten Prozess. Mehr als dreißig Jahre lang hatte
er dafür gesorgt, dass große reiche Firmen noch größer und noch reicher wurden. Dann hatte er das alles eines schönen Tages aufgegeben (»Es waren keine Gewissensbisse, es hat mich alles einfach nur unendlich gelangweilt!«) und stattdessen die buchstäblich schweren Fälle übernommen. Es vergingen weitere sechs Jahre, bevor eines Abends ein unzufriedener Mandant aus dem Hauseingang von Danzigers Wohnblock trat, als dieser gerade nach Hause kam. Etwas so Verrücktes habe er noch nie gesehen, meinte später der Rettungssanitäter, der gerufen worden war. Wir kommen dort an, und da sitzt dieser Typ - Danziger - auf dem Bürgersteig, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und die Beine vor sich ausgestreckt. Aus seinem Kopf ragt das Heft eines Jagdmessers, als wär’s ein Horn. Und er singt »Buffalo Gals Won’t You Come Out Tonight«.
Er hat’s jedenfalls überlebt, allerdings mit einem schweren Gehirnschaden. In den Händen behielt er eine Schüttellähmung, er zog einen Fuß nach, und die Asphaltdecke seines Gedächtnisses war quasi mit Schlaglöchern überzogen. Seitdem lebt er in einem Heim für betreutes Wohnen. Aber die alten Kohorten treten regelmäßig zu Besuch an und liefern ihm den letzten Gerichtstratsch.
»Sie sagen Anfang September. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
»Danke, Herb. Geht’s dir gut?«
»Ging mir noch nie besser. Die Ergotherapeutin würde mich sofort adoptieren, wenn sie könnte. Wer hätte
gedacht, dass ich künstlerisches Talent hab? Meine geknüpften Bänder und Decoupage-Arbeiten sind mit Abstand die besten. Jeder, der sie sieht, muss weinen.«
»Brauchst du irgendwas?«
»Ich bin zufrieden, T. Wenn du in der Gegend bist, komm mich einfach mal besuchen, das ist alles.«
»Das mach ich.«
Lou Winter hatte vier Kinder umgebracht, Jungs im Alter von zehn bis dreizehn Jahren. Anders als andere Kindermörder verging er sich weder an ihnen, noch verhielt er sich ihnen gegenüber sonst irgendwie unsittlich. In den meisten Fällen lernte er sie in Einkaufszentren kennen, freundete sich mit ihnen an, lud sie groß zum Essen ein und häufig auch ins Kino, anschließend brachte er sie um und verscharrte sie dann in seinem Garten. Auf jedem Grab war ein kleines Gemüsebeet angelegt: Tomaten auf dem einen, Zucchini auf dem anderen, Chilipflanzen auf dem dritten. Aus dem Boden des jüngsten Grabes spross erst ein kleiner Halm mit zwei winzigen Blättern.
Mein vierter, vielleicht mein fünfter Fang als Detective war anfangs lediglich eine Vermisstenanzeige. Ich war die Karrieretreppe raufgefallen und hatte im Grunde keine Ahnung, was ich überhaupt tat oder wie ich etwas anpacken musste. Jeder im Revier wusste das - die diensthabenden Beamten in der Wache, andere Detectives, die Jungs von der Spurensicherung, die Streifenpolizisten und wahrscheinlich auch die Putzfrau. Ich arbeitete ungefähr seit einer Woche an dem Fall, bis dahin kein Land
in Sicht, als ich eines Abends gegen sechs Feierabend machte und einen Zettel hinter meinem Scheibenwischer fand. Ich habe nie erfahren, wer ihn dorthingesteckt hat. Jedenfalls stand der Name des vermissten Kindes drauf, desjenigen, das ich suchte, und dahinter die Zahl Vier. Dann war da noch ein weiterer Name und die Adresse einer Tierhandlung in der Westwood Mall.
Ein leiser Gong ertönte, als ich den Laden betrat. Lou Winter kam aus dem hinteren Teil des Geschäfts, blieb stehen und beobachtete mich. Ich glaube, er wusste bereits, wer ich war. Als ich es ihm dann sagte, nickte er nur und hielt die Augen immer noch auf mich gerichtet. Diese Augen haben etwas Merkwürdiges, dachte ich schon damals.
»Ich habe hinten eine Katze, die gerade Junge bekommt«, sagte er. »Hätten Sie vielleicht ein paar
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