Twig im Dunkelwald
hin und her und rieb sie vorsichtig an seiner Weste blank. Dann führte er sie langsam zum Mund und …
»Nein!«, sagte er. »Ich trau mich nicht.« Er warf die Frucht weg. Sein Magen gurgelte wütend. »Du musst eben noch warten«, sagte Twig barsch und marschierte grimmig weiter. Dabei schimpfte er leise vor sich hin. Wie dumm von ihm auch nur daran zu denken, er könnte etwas essen, das er nicht kannte. Denn auch wenn viele Früchte und Beeren des Dunkelwalds süß und nahrhaft waren, noch viel mehr waren giftig.
Ein einziger Tropfen vom Saft des rosigen Herzapfels zum Beispiel reichte aus einen auf der Stelle zu töten. Und der Tod war keineswegs die einzige Gefahr. Andere Früchte machten einen blind oder explodierten im Magen oder sie lähmten einen. Die Beere der Kratzwurz verursachte einen blauen warzigen Hautausschlag, der nicht mehr wegging. Die Schrumpfbirne ließ den, der davon aß, zusammenschrumpfen – je mehr man davon aß, desto kleiner wurde man. Die Unglücksraben, die zu viel davon gegessen hatten, verschwanden gänzlich.
»Es ist einfach viel zu gefährlich«, sagte Twig zu sich selbst. »Ich muss warten, bis ich zu einem Baum komme, den ich kenne.«
Er lief immer weiter, doch kam ihm von den unendlich vielen verschiedenen Bäumen, an denen er vorbeikam, keiner bekannt vor.
»Das hat man nun davon, dass man unter Waldtrollen aufgewachsen ist«, seufzte er unglücklich.
Da Waldtrolle den Weg nie verließen, beauftragten sie andere damit, sie mit Früchten aus dem Wald zu versorgen. Ihr Geschäft war der Tauschhandel, nicht die Nahrungssuche. Twig wünschte sich mehr denn je, es wäre anders gewesen.
Er versuchte die Proteste seines Magens einfach nicht zu beachten und marschierte weiter. Seine Glieder fühlten sich bleischwer an, sein Kopf dagegen seltsam leicht. Von Bäumen, an denen Früchte hingen, wehten ihm Düfte entgegen, die ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, und die Früchte glänzten verlockend. Denn Hunger ist etwas Seltsames. Er betäubt den Verstand und schärft die Sinne. Und als irgendwo weit vor ihm ein Zweig knackte, hörte Twig ihn so laut, als hätte er direkt daneben gestanden.
Er blieb stehen und sah angestrengt geradeaus. Dort war etwas. Langsam ging er weiter, bemüht nicht selbst auf einen dürren Zweig zu treten. Auf einmal hörte er ganz in der Nähe jemanden stöhnen. Er duckte sich um nicht gesehen zu werden. Langsam, mit klopfendem Herzen, schlich er weiter und – stand plötzlich vor einem Tier, einem wahren Koloss mit dickem Fell.
Das Tier rieb sich mit einer Tatze vorsichtig die Seite seines behaarten Gesichts. Als es Twig sah, warf es den Kopf zurück, bleckte die Zähne und stieß ein wildes Gebrüll aus. »Hiiiilfe!«, schrie Twig und sprang hinter einen Baum. Er zitterte am ganzen Leib vor Angst. Krachend und splitternd entfernte sich das Tier durch das Unterholz. Dann hörte der Lärm plötzlich auf und ein klagendes Geheul setzte ein. Im nächsten Augenblick antwortete darauf aus weiter Entfernung ein ähnliches Jaulen.
»… Banderbären!« Twig hatte schon oft von ihnen gehört, aber nie einen gesehen. Der Bär war noch viel größer, als er sich ihn vorgestellt hatte.
Der Banderbär ist trotz seiner gewaltigen Größe und Kraft ein furchtsames Geschöpf. Angeblich erscheint ihm die Welt durch seine großen, traurigen Augen größer, als sie wirklich ist.
Vorsichtig riskierte Twig einen Blick. Der Banderbär war verschwunden, aber eine Spur zerbrochener Zweige führte zwischen den Bäumen hindurch. »Der gehe ich auf keinen Fall nach«, sagte Twig. »Ich …«
Er erstarrte. Der Banderbär war gar nicht verschwunden. Dort stand er, keine zehn Schritte entfernt. Mit seinem blassgrünen Fell war er perfekt getarnt. »Wu!«, stöhnte er leise und hielt wieder eine Pranke an die Backe. »Wuuuu?« Das Tier war in jeder Beziehung gewaltig, mindestens doppelt so groß wie Twig und gebaut wie eine Pyramide. Es hatte Beine wie Baumstämme und seine Arme waren so lang, dass die Tatzen den Boden streiften. Die vier Klauen waren so lang wie Twigs Unterarme und dasselbe galt für die beiden gekrümmten Hauer, die aus dem vorstehenden Unterkiefer ragten. Nur die Ohren, die aussahen wie zarte Flügel und ununterbrochen zuckten, wirkten lebendig und nicht wie aus Stein gehauen.
Der Banderbär beäugte Twig mit seinen traurigen Augen. »Wuuu?«, stöhnte er wieder.
Er hatte Schmerzen, so viel war klar. Trotz seiner Größe wirkte er seltsam
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