Twin Souls - Die Rebellin: Band 2 (German Edition)
nichts mit Sophies Arbeit zu tun haben. » Warum gerade jetzt? «
Sophie zuckte mit den Schultern und zog eine Schachtel mit Crackern aus dem Schrank. » Rebecca hat nachher noch was zu erledigen und … «
» Kommt Dr. Lyanne auch? « , fragte Addie. » Bringt sie Jaime mit? «
» Ich denke nicht. « Sophie musterte uns mit schmalen Augen. Schon wieder dieser Blick, als hätte sie Angst, wir könnten jeden Moment zusammenbrechen. Emalia trug ihn viel öfter zur Schau, aber auch Sophie war nicht immun dagegen, sich Sorgen um uns zu machen. » Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihn in die Stadt mitbringen würde, jetzt, da … na, ihr wisst schon. «
» Ist sie schon bei Peter? «
» Genau genommen treffen wir uns hier bei Henri. «
Addie machte sich nicht die Mühe, unsere Erleichterung zu verbergen. Wenn das Treffen bei Peter stattgefunden hätte, hätten wir mit Sophie darum kämpfen müssen, das Gebäude verlassen zu dürfen. Und ich war beinah sicher, dass sie nicht nachgegeben hätte. » Wann geht es los? «
» Ungefähr in zehn Minuten « , erwiderte Sophie, beeilte sich aber hinzuzufügen: » Addie, das Treffen ist nicht für alle. Du … «
» Ich möchte nur kurz mit ihr sprechen. « Wir waren schon auf halbem Weg in den Flur.
» Warte und geh mit mir zusammen hoch « , rief Sophie hinter uns her. » Sie ist vielleicht noch gar nicht da. «
» Sie wird da sein « , widersprach Addie. » Sie kommt gerne frühzeitig. «
Sophie lächelte schwach. Einen Moment verblasste die Sorge auf ihrem Gesicht und wurde von einem Anflug von etwas abgelöst, das ich nicht benennen konnte. » Das hört sich an, als würdest du sie gut kennen. «
Ich dachte daran, wie Dr. Lyanne Jaime angesehen hatte, als er im Krankenhausbett an ihr vorbeigerollt wurde. Wie sie ihn in der Dunkelheit getröstet hatte. Uns den Code verraten hatte, der die Türen im Keller öffnete. Im Hybridflügel aufgetaucht war, Kittys Hand in ihrer. Wie sie mit uns auf der Feuertreppe von Peters Appartement gesessen und die Autos beobachtet hatte, die tief unter uns dahinglitten.
» Gut genug « , sagte Addie.
Addie hatte fast richtig gelegen. Dr. Lyanne war noch nicht in Henris Wohnung eingetroffen, aber wir waren erst einen Treppenabsatz hinaufgestiegen, als wir das rasche Klappern von Absätzen von unten heraufschallen hörten. Es wäre albern zu behaupten, wir hätten Dr. Lyanne am Klang ihrer Schritte erkannt, aber unsere Ahnung ließ uns auf der Treppe innehalten.
Nach und nach kam sie in Sicht. Ihre hellbraunen Haare waren inzwischen länger als zu Nornandzeiten. Vielleicht lag es an der Feuchtigkeit in Anchoit, aber ihre Haare schienen zudem nicht ganz so glatt zu sein. Sie fielen wellig bis über ihre Schultern, einzelne Strähnen hingen ihr ins Gesicht.
Sie hatte abgenommen. Ihre feinen Gesichtszüge waren schärfer geworden, ihre Glieder zart wie die eines Vögelchens. Wir hatten mitbekommen, dass sie ein paar Jahre jünger als Peter war, also konnte sie höchstens acht- oder neunundzwanzig sein, aber sie wirkte um so vieles älter, als sie jene Stufen hinaufkam.
Dr. Lyanne hatte bei unserer Flucht aus Nornand ihre Finger im Spiel gehabt – tatsächlich hatte sie versucht, sämtliche Kinder von dort zu retten. Dafür hatte sie fast alles aufgegeben. Emalia war es gelungen, genug falsche Dokumente aufzutreiben, um ihr einen Job in einer Klinik zu verschaffen, aber ich hatte den Eindruck, dass es sich dabei um eine sehr einfache Tätigkeit handelte, etwas, wofür Dr. Lyanne extrem überqualifiziert war.
Aber vielleicht bereitete es ihr ja Freude.
Vielleicht auch nicht. Vielleicht bereute sie alles.
» Hallo « , murmelte Addie.
Dr. Lyannes Kopf fuhr hoch. Einen Moment erwiderte sie nichts, musterte uns nur so, wie wir sie musterten. Hatten auch wir uns im Lauf der vergangenen Wochen verändert? Oder verglich sie uns mit einer jüngeren Version unserer selbst? Mit dem Mädchen, das in einem glänzenden schwarzen Auto in Nornand angekommen war, gehüllt in eine Schuluniform und die letzte Umarmung seiner Eltern und die kümmerlichen Überreste seiner Naivität?
» Hallo « , sagte Dr. Lyanne. Sie schloss den verbleibenden Abstand zwischen uns. » Wohin gehst du? «
Dr. Lyanne war keine Frau, deren Anblick Trost spendete. Sie hatte Ecken und Kanten. Sie lächelte kaum. Sie und Emalia waren nie gut miteinander ausgekommen, obwohl Dr. Lyanne eine Weile bei ihr gewohnt hatte, bevor sie eine eigene Bleibe gefunden hatte.
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