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Tyggboren (Salkurning Teil 2) (German Edition)

Tyggboren (Salkurning Teil 2) (German Edition)

Titel: Tyggboren (Salkurning Teil 2) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Loons Gerringer
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Seiten waren
schlichte weiße Blätter, als wären gerade keine weiteren Briefbögen zur Hand
gewesen. Der Brief war auf den achten November 1940 datiert und in
dunkelvioletter Tinte geschrieben, die kaum verblasst war. Die „liebe
Charlotte“, an die er gerichtet war, schien, wie James beim Überfliegen der
ersten Zeilen feststellte, die Schwester der Verfasserin gewesen zu sein. Nach
einigen einleitenden Sätzen fand sein Blick den Namen, auf den er gewartet
hatte.
     
    „Seit Montag ist Aubrey nun wieder bei uns“, las er.
„Acht Tage Heimaturlaub haben sie ihm gewährt. Er ist ein Schatz, ein
Lichtblick in unserem niedergedrückten Leben hier, trotz aller Einschränkungen,
die er bei uns vorfinden muss. Scheint sich gar nicht zu stören daran und
bringt sogar seine hysterischen Cousinen zum Lachen. Hat kein Wort über die
Vernachlässigung verloren, die sich nach den schweren Monaten überall auf
Wokenduna bemerkbar macht. Stattdessen streift er den halben Tag durch die
Wildnis und erinnert mich darin wieder an den kleinen Jungen, der jede Minute
seiner Ferien in diesen Gärten und dem umliegenden Wald verbrachte. Ich glaube,
er kannte Wokenduna schon als Elfjähriger besser als jeder unserer Gärtner.
Abends leistet er uns trüber Versammlung Gesellschaft und ist so charmant wie
eh und je, sodass man glauben könnte, wir hätten uns die Bombennächte nur
eingebildet. Über den Krieg spricht er nicht, schweigt auch nach wie vor über
das, was er in Frankreich erlebt hat. Das nur, um Dir zu zeigen, dass es Deinem
Patensohn so gut zu gehen scheint, wie das in diesen Zeiten möglich ist. Um Dir
damit etwas an die Hand zu geben, womit du meine Beunruhigung vertreiben und
sie als das Hirngespinst einer besorgten Mutter entlarven kannst!
    Denn bei aller scheinbaren Heiterkeit hat er mir
gestern, sozusagen nebenbei, angedeutet, dass er die Verlobung mit Anne gelöst
habe! Und auch das Leben als Schiffsarzt – noch im letzten Jahr (sehr zu Peters
Missfallen!) seine Idealvorstellung von der Zukunft – ist ihm auf einmal keine
Silbe mehr wert. Neue Pläne hat er auch nicht erwähnt.
    Ich mache mir Sorgen, Charlotte! Äußerlich scheint er
unversehrt, er hatte ja immer eine robuste Gesundheit, war sogar ein wildes,
unempfindliches Kind, wie Du Dich erinnerst. Aber wenn ich ihn jetzt so sehe,
so scheinbar unberührt von all den schlimmen Dingen, die er zweifellos gesehen
haben muss in den vergangenen Monaten, die aber nicht einmal sein Lächeln
trüben – dann bekomme ich Angst um ihn. Es gab da einmal einen Zwischenfall,
und der will mir jetzt gar nicht mehr aus dem Kopf. Ich weiß nicht, welche
Auswirkungen diese Sache nun tatsächlich auf ihn hatte und ob überhaupt welche,
aber die ganze Zeit bedrängt mich die Frage, wie er auf eine so schwere
Belastung, wie es der Dienst im Feldlazarett sein muss, reagieren mag.
    Die Einzelheiten habe ich nie jemandem erzählt, nicht
einmal Peter oder dem alten Doktor Woodhouse, der ihn damals behandelt hat,
aber jetzt muss das einmal heraus – und sei es nur, damit Du mich als verrückte
alte Schnepfe überführst.
    Es war in dem Jahr, in dem ihr nach Indien übersiedelt
seid, in dem Sommer, in dem er zwölf geworden war. An die Fakten erinnerst Du
Dich vielleicht noch aus unseren Briefen: Ein Marder hatte ihn in die Hand
gebissen, eins von den kleinen Biestern, die er immer verletzt im Wald auflas,
um sie dann hier gesundzupflegen. Die Wunde war an sich nicht
besorgniserregend, entzündete sich aber, und plötzlich, innerhalb eines Tages,
stand es so schlimm um ihn, dass der verletzte Finger amputiert werden musste
und wir dennoch nicht wussten, ob er durchkommen würde. Danach lag er
wochenlang mit immer wiederkehrenden Fieberschüben im Bett, so schwach und
elend, wie wir ihn sonst nie mehr erlebt haben. All das weißt Du ja. Wovon ich
Dir nichts erzählt habe, waren seine Träume, falls man nicht korrekterweise von
Fieberfantasien oder Schlimmerem sprechen müsste. Ich habe so viel Zeit an
seinem Bett verbracht, und da bekam ich mit, wie er sich quälte, was er zu
sehen glaubte. Nur weil ich ihn im Traum reden hörte, konnte ich ihm später die
richtigen Fragen stellen und es aus ihm herauslocken. Es lief immer wieder auf
dieselbe Vorstellung hinaus: Er fantasierte von einem Mädchen, das vor ihm
davonlief und etwas vor ihm versteckte, das ihm gehörte und das er unbedingt wiederhaben
wollte, haben musste. Ich dachte zunächst, ein Streit mit seinen Cousinen –

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