Typisch Mädchen
spontanen Körperreaktion des Weinens mit dem Kind halte ich für einen Grund dafür, daß das Kind den gesellschaftlichen Wert der Frau dem seinen gleichstellt. Mädchen ziehen daraus, den Rückschluß auf ihre eigene Wertschätzung, Buben auf die Wertschätzung ihrer weiblichen Umwelt.
Ich fühle, daß ich einem wichtigen Faktor für weibliche Un-terlegenheitsgefühle auf die Spur gekommen bin.
28. November 1983 (2Jahre, 3 Monate)
Wir sind zu Felix' zweitem Geburtstag eingeladen. Ich überlege, was wir als obligates Geburtstagsgeschenk mitbringen könnten, und bin der Ansicht, daß es etwas von Annelis Spielsachen sein soll, da es nur so den Sinn eines Geschenkes hat. Was fällt mir ein? Ein Spielzeugmotorrad, denn zum einen hat Anneli für meinen (!) Geschmack sowieso von einer Nachbarin zu viel von diesen Sachen geschenkt bekommen, und zum anderen spielt sie nicht so viel und intensiv damit wie Felix, der immer von Autos umgeben ist. Ich sage zu Anneli: »Schenkst du Felix das Motorradi? Er spielt doch so gern mit so was.« Anneli ist einverstanden, sie hängt nicht daran.
Erst werden einem Buben Autos geschenkt, weil er ein Bub ist, dann wird immer wieder das gleiche geschenkt, weil »er« ja so gern damit spielt! Es fällt mir erst abends auf, daß auch ich ganz von selbst dieses Spiel mitmache. Auf dem Geburtstagsfest ist auch ein gleichaltriger Bub namens Tim eingeladen. Er ist sehr zurückhaltend, schüchtern und von zierlicher Statur im Vergleich zu den anderen anwesenden Buben. Seine Kleidung ist völlig neutral. Jeans und roter Pulli. Ich stelle fest, daß es mich lange Zeit stört, nicht das Geschlecht dieses Kindes auf den ersten Blick feststellen zu können. Er war für mich nicht sofort als Bub erkennbar, ich deute mein Gefühl der Unsicherheit als meine Unfähigkeit, ein Kind tatsächlich neutral zu betrachten. Und nicht nur das, es ist meine Unfähigkeit, mit dem Kind geschlechts-unspezifisch in Kontakt zu treten. Offenbar habe ich zweierlei Kästchen, aus denen ich mein Verhalten heraushole - eines für die Mädchen und eines für die Buben.
Felix, einen Monat jünger als Anneli, ist zu Besuch. Beide Kinder laufen zu rhythmischer Musik in jeweils entgegengesetzter Richtung um Annelis Schaukelpferd herum. Sie stoßen dabei dreimal zusammen. Bei der nächsten Runde ums Pferd rennt Felix wieder schnurstracks weiter; Anneli weicht aus, so daß von jetzt ab kein Zusammenstoß mehr passiert. Und das immer wieder, immer wieder - er rennt seinen Weg, sie weicht aus. Beide Mütter schauen zu und sagen nichts. Mir ist schon ganz elend. Ich denke an Forschungsergebnisse von Frauen 23 , an meine eigenen Experimente und die einer Freundin in Berlin, auf einer belebten Straße entgegenkommenden Männern nicht auszuweichen. Wenn die Frau nicht rechtzeitig vorher ihren Umweg sucht, kommt es unweigerlich zum Zusammenstoß.
Aus welchen Gründen auch immer, Anneli hat in dieser Situation mit Felix eine soziale Anpassungsleistung zu seinen Gunsten erbracht. Sie ist diejenige, die vorausdenkt, die eine zukünftige Situation für beide dadurch löst, daß sie ihr Verhalten an seinem zu erwartenden Verhalten orientiert. Für beide Mütter ist dies offenbar die pure Selbstverständlichkeit. Ich entwickle erst gar nicht den Mut oder die Phantasie, hier einzugreifen und Felix zu anderem Verhalten zu ermuntern. Seine Mutter nimmt das ohnehin nicht wahr. Wieder einmal wird der Bub, so wie er sich verhält, akzeptiert; die Mütter fordern keine Anpassung an das Mädchen, sondern nehmen im Gegenteil die Leistung des Mädchens als Selbstverständlichkeit hin.
6. Dezember 1983 (2Jahre, 4 Monate)
Ein Jahr ist um, es ist wieder Nikolaus. Vier Kinder sind zusammen. Alle, zwei Mädchen, zwei Buben, sind etwas scheu. Da wird Thomy, das älteste Kind, zum Vortreten mit der Bemerkung angefeuert: »Du wirst dich doch als Bub nicht vor dem Nikolaus fürchten.« Daraufhin fühlt er sich sehr zum Hingehen gedrängt, man sieht's an seinem Gesichtsausdruck, aber er kommt der Forderung nach. Er ist ein Bub! Beide Buben stecken übrigens in ihren normalen Alltagsklei-dem, Trainingsanzug bzw. Jeans und Pulli. Hanna dagegen trägt ein Kleidchen, und Anneli habe ich die beste Bluse, die wir haben, mit Stickerei und Rüschen zu einer neuen Hose angezogen. Bei beiden Mädchen ist das Festliche des Nachmittags an der Kleidung zu sehen; bei den Buben nicht. Ich hatte mit Anneli auch vorher darüber gesprochen und zu ihr gesagt, daß wir uns
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