Typisch Mädchen
und ich werden von der anderthalbjährigen Annalena und ihrer Mutter begleitet. Die Kleine will von unten die Rutschbahn hinaufkrabbeln. Sie versucht es eben das zweite Mal, als oben auf der Rutschbahn ein etwa vierjähriger Bub erscheint.
Sofort, als der Bub zu sehen ist, wird Annalena von ihrer Mutter aufgefordert: »Annalena, mach Platz, der Junge will rutschen.«
Ich frage mich in diesem Moment, warum eigentlich Annalena diejenige sein soll, die dem Buben zu weichen hat, und warum nicht der Bub warten soll, bis Annalena den Platz zum Rutschen freigibt. Schließlich kam er nach Annalena. Wieder das alte Lied: Beim Auftauchen eines männlichen Wesens, auch wenn es noch klein ist, hat immer die Frau, das Mädchen zu weichen. Die Anpassungsleistung wird in jedem
Fall vom Mädchen erwartet. Die Mutter hält ihre Tochter in zartem Alter schon dazu an - auch wenn sie, wie Annalenas Mutter, eine selbstbewußte alleinerziehende Frau ist, die ei gentlich weiß oder wissen müßte, worauf es ankommt. Da ich finde, daß ein Kindervergnügen gegen das andere steht, schalte ich mich ein und verkünde, daß Annalena bleibe. Der Bub schaut mich ungläubig an, setzt sich auf die Rutschbahn und rutscht los, wenn auch etwas gebremst, aber immerhin doch direkt auf die Kleine zu. Dabei fixiert er mich, und sein Blick drückt die Frage aus: »Jetzt wollen wir doch einmal sehen, wer sich hier durchsetzt.« Ich nehme Annalena nicht weg und schimpfe ihn fürchterlich aus, er solle sich nicht mehr blicken lassen. Daraufhin schleicht er tatsächlich etwas eingeschüchtert von dannen.
Ich bin mir sicher, daß sowohl die kleine Annalena als auch Anneli, die daneben im Sand spielte, die Botschaft verstanden: Eigentlich hätten sie zu weichen, wenn ein Bub auftritt.
25. Juni 1984 (2Jahre, 10 Monate)
Ich beobachte in den letzten Tagen an Anneli häufig folgende Gesten: Sie klatscht in ihre Hände, dann an ihre Hüften, plappert nicht näher zu definierende Sprüche vor sich hin und schlägt mit der geöffneten Handfläche im Takt in die Luft. Da ich diesen Vorgang bereits einige Male sah und über dessen Bedeutung nachsann, vermute ich nun, daß sie Mädchenballspiele nachahmt. Ich frage nach, was sie da mache, und bekomme zur Antwort: »Ich mach es wie die Mädchen.« Ich: »Gefällt dir das denn?« Sie: »Aber ich bin doch ein Mädchen.« Ich entsinne mich, daß sie vor einigen Wochen mehrere Tage bei Oma verbrachte, in deren Umgebung viele Mädchen im Grundschulalter wohnen. Aha, das war es also! Und es kommt Anneli dabei gar nicht darauf an, ob es ihr gefällt. Hauptsache sie macht es als Mädchen wie alle anderen Mädchen.
Sie will dabei sein, dazugehören, und deshalb macht sie das, was ihr vorgeführt wird von anderen Kindern, die genauso wie sie als Mädchen definiert werden. Sie versteht nicht, was sie mit dieser Nachahmung des als »weiblich« definierten Verhaltens übernimmt. Für ein Kind ist ja erst einmal noch alles ununterschieden gut. Sie ist ein Mädchen, und deshalb orientiert sie sich an Mädchen. 45
26. Juni 1984 (2Jahre, 10 Monate)
Wegen irgendeiner Lappalie hat Anneli plötzlich Angst. Da sage ich zu ihr: »Du wirst dich doch nicht fürchten, du bist doch ein Mädchen!«
Ich wollte damit nur einmal die umgekehrte Situation ausprobieren und bin erstaunt über die Antwort: »Aber die Buben fürchten sich schon ein bißl.«
Erstaunlich, wie schnell die Kinder verstehen, was in der Betonung einer Eigenschaft für ein Geschlecht gleichzeitig damit auch für das andere Geschlecht ausgesagt ist.
29. Juni 1984 (2Jahre, 10 Monate)
Anneli stellt Klaus und mir die Aufgabe, durch einen Grashalm zu pfeifen, wie sie es bei Utz im Kinderladen sah. Weder mir noch Klaus gelingt es sofort. Daraufhin spricht sie nur noch mit Klaus und erklärt allein ihm, wie er es anzustellen habe, und versucht es in kindlichen Gesten vorzumachen. Da Utz, ein Mann, Grashalm pfeifen konnte, war Ansprechpartner für sie auch nur ein Mann.
Als es Klaus immer noch nicht gelingt, wendet sie sich an mich: »Der Utz ist doch ein Mann wie der Papi, und der hat's doch auch können! Die Regine hat's aber nicht können!« Mir fehlte nur noch der Zusatz: »... weil sie nämlich eine Frau ist ...« Sie sprach es zwar nicht aus, aber ich bin mir sicher, daß der Gedanke in ihrem Gehirn ist. Jedenfalls gelang es mir dann ziemlich schnell. Ich hoffe, ihr Weltbild etwas korrigiert zu haben.
"Wieder einmal in der Schweiz. Auch dieses Mal begleiten uns Ellen und
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