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Tyrannenmord

Tyrannenmord

Titel: Tyrannenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Jensen
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überhaupt nicht mehr beruhigen zu wollen.
    Während Erika Long vorsichtig die Flügel des verletzten Vogels untersuchte, war sie darin so vertieft, dass sie erst durch das Knacken eines Astes bemerkte, dass Henningsen sich bereits hinter ihr befand. Sie waren zwar nächste Nachbarn, aber niemals zuvor hatte einer des anderen Grundstück betreten, denn die Unvereinbarkeit ihrer Ansichten und die damit verbundenen Vorurteile auszuräumen, schienen für keinen der beiden in irgendeiner Weise lohnenswert.
    Natürlich ahnte sie, was Henningsen hergetrieben hatte, aber da der sonst so burschikose Mann herumdruckste und keinerlei Anstalten machte, sich zu äußern, ergriff sie, nachdem sie die Wiesenweihe behutsam in einen Transportkäfig abgelegt hatte, das Wort.
    »Was wollen Sie von mir, Henningsen«, klang es ziemlich schroff. »Sie habe ich hier ja noch nie gesehen!«
    »Ja, lassen Sie diese Übergriffe denn einfach kalt?«, polterte Henningsen in gewohnter, vorwurfsvoller Weise los, ohne auf die spitze Bemerkung einzugehen. Dabei konnte er ein Zittern in der Stimme nicht unterdrücken, obwohl er es gern wie immer, unter seiner bewährten Tünche aus Derbheit verborgen hätte.
    »Was ist denn das bloß für eine Frage, Henningsen«, entrüstete sich seine Nachbarin. »Sie können sich ja wohl denken, dass ich mit meinen Tieren hier die liebe Not habe … ganz anders als Sie, der sich nur darauf beschränken muss, oben am Berg einmal mehr den wilden Max zu markieren.«
    »Nicht nur Sie und Ihr NABU pflegen die Tiere, auch wir Jäger hegen sie«, erwiderte Henningsen nun seinerseits erbost. Er hätte sich eigentlich denken können, dass sie beide, wie schon so oft, bei ihrem alten Streitthema anlangen würden.
    »Ach«, erhob sich Erika aus ihrer gebückten Haltung und sah Henningsen abfällig an. »Dass ihr Jäger jetzt neben Katze, Fuchs, Hase, Marderhund, Wildschwein, Reh und Krähen auch noch den Waschbären abschießen könnt, ist wohl ein weiteres gefundenes Fressen für euch, nicht wahr?« Die engagierte Frau redete sich immer mehr in Rage. »Euer ganzes albernes, mittelalterliches Gehabe, oder, sagen wir besser, eure Mordlust findet hier nur ein zusätzliches Ventil … und, wie dumm von euch«, sprudelte es aus der Tierschützerin nur so hervor, »sich nach dem widerlichen Abschlachten mit den ausgelegten Tierleichen für das Lokalblatt ablichten zu lassen … pfui Teufel, Henningsen! Und im Übrigen, werter Nachbar, sollten Sie mir nicht so einfach irgendwas unterstellen«, schloss Erika Long den unfruchtbaren Dialog für sich ab, »denn ich bin gar kein Mitglied im NABU, der anscheinend ein rotes Tuch für alle Jäger ist, oder?« Mit einer Mischung aus Ärger und Verzweiflung wandte sie sich von Henningsen ab und schaute in die Weite der Landschaft hinaus, als fände sie dort etwas Tröstendes. Als sie sich umdrehte, war der Jäger bereits verschwunden. Einen Augenblick später sah sie ihn noch kopfschüttelnd den Hügel zu seinem Hof hinaufmarschieren und an dem abgehackten, ihr sehr resolut erscheinenden Gang war deutlich zu erkennen, dass der Mann voller Wut steckte.

    Als Erika am nächsten Morgen, einem Samstag, zur Anhöhe hinüberschaute, weil sie eine Wiederholung der Geschehnisse befürchtete, sah sie, dass der Wirtschaftsweg durch mehrere, aufgetürmte Strohballen blockiert war.
    Gleich dahinter hatte sich Henningsen mit seinem alten Traktor aufgebaut und er schien sein Terrain mit Zähnen und Klauen verteidigen zu wollen, denn Erika Long sah, dass von seiner untersetzten Statur, die sich als dunkle Silhouette gegen die Mittagssonne klar und scharf abzeichnete, auch eine seiner Büchsen herabhing.
    Die erste Welle der Motorisierten rollte am frühen Nachmittag heran, staute sich, wie nicht anders zu erwarten, vor der Straßensperre, bis einige hundert wütende, ständig hupende und im Leerlauf das Gas hochjubelnde Fahrer den Wirtschaftsweg bis hinauf zur Langballiger Chaussee blockierten. Gerade als Henningsen mit der Büchse in der Hand ausgestiegen war, weil einige mit Quads und geländegängigen Maschinen versuchten, über das Getreidefeld auszuweichen, kam Hensel, der Dorfpolizist, von der Küste kommend den Wirtschaftsweg hochgefahren.
    »Mach keinen Unsinn, Henningsen!«, entfuhr es ihm, während er auf den Altbauern zulief und das Szenario in Augenschein nahm. »Wenn du die Strohballen unverzüglich wegräumst, lass ich noch mal fünfe grade sein und hab die Flinte nicht

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