Tyrannenmord
Geschichte lesen?«
Ben und Nina nickten stumm.
Nachts konnte Nina keine Ruhe finden und so las sie die Geschichte von Joes Vater, die Joe ihnen noch vor der Tagesschau vorbeigebracht hatte.
Sie hatte bislang nur gewusst, dass Joes Vater aus Ostpreußen stammte und in den letzten Kriegswochen als Kind mit seiner Familie geflohen war. Mit der Dramatik der damaligen Ereignisse hatte sie sich nie näher auseinandergesetzt.
Sie erfuhr, dass die Familie von Joe erst aufgebrochen war, als die Front schon fast das Dorf erreicht hatte, da der Großvater auf die Durchhalteparolen des ortsansässigen NS-Bürgermeisters vertrauend sich bis zuletzt geweigert hatte, dem Treck der meisten Dorfbewohner zu folgen. Er war fest davon überzeugt, dass Elite-Einheiten, die nur auf einen Wink des Führers warteten, die Russen mit der propagierten Wunderwaffe noch beizeiten davonjagen würden.
Joes Großmutter hatte sich entschlossen, das Nötigste zusammenzupacken und mit ihren Angehörigen allein schon des Kindes wegen zu gehen. Joes Vater hatte erleben müssen, wie die Mutter vor der Kulisse eines detonierenden Geschosses, das die Dorfstraße für Sekundenbruchteile grell erleuchtete, einen letzten Versuch unternahm und der Verzweiflung nahe an seinem Vater rüttelte. Der hatte sie nur stumm mit seinem Ellenbogen abgewehrt, auf einen imaginären Punkt in der Ferne gestarrt und keinen Blick für seinen kleinen Sohn übrig gehabt.
Nina stellte sich die Verzweiflung des Jungen vor, als sie las:
›»Wo bleibt bloß Papa?« Der kleine Fritz drehte sich immer wieder nach der in nächtliches Dunkel getauchten, in dichten Abständen durch Granateinschläge partiell erhellten, langsam kleiner werdenden Ortschaft um.
»Papa kommt sicherlich bald nach, er hat nur noch ein paar Dinge zu erledigen«, versuchte die Mutter das aufgeregte Kind zu beruhigen, dem irgendwann die Augen zufielen.‹
Wenn der Kleine im späteren Verlauf der Flucht nicht gerade von Wolldecken dick eingemummelt im hinteren Teil des Planwagens schlief, saß er vorn zwischen Opa und Oma auf dem Kutschbock, wo das Schnauben und die warme Ausdünstung der beiden kräftigen Kaltblüter sowie die Nähe der alten, herzlichen Menschen so etwas wie Balsam für die geschundene Kinderseele war.
Unterwegs, auf der von alten Bäumen gesäumten, verschneiten Chaussee, die sich fast schnurgerade durch die leicht hügelige Landschaft zog, trafen sie auf weitere Gespanne und Fußgänger, die alle Danzig zum Ziel hatten, in der Hoffnung, dort ein rettendes Schiff nach Schleswig-Holstein, Hauptsache nach Westen zu bekommen. Alle klammerten sich an diese verbliebene Möglichkeit, denn russische Truppen waren bereits weiter südlich der Hafenstadt vorgedrungen und hatten dort den Zugang zum Westen für die Flüchtlinge so gut wie unmöglich gemacht.
Dass gerade in Danzig für einige Trecks das grausame Schicksal besiegelt sein würde, mochten sie natürlich nicht ahnen und dass für viele von ihnen auf der als sicher gewähnten Wilhelm Gustloff der nasse Tod bereitstand, hervorgerufen durch einen russischen U-Boot-Torpedo, hatte sich keiner ausmalen können, geschweige denn wollen.
Es war ein merkwürdiger Zug, der da durch die sonst so stille Landschaft rollte und diese mit einem hier nie vernommenen Geräuschteppich von hunderten, knarrenden, eisenbeschlagenen Speichenrädern versah, unterbrochen nur durch gelegentliches Fluchen, wenn eines der Pferde mal wieder auszugleiten drohte, dem Scheppern von Hausgerät, wenn die Wagen mit frostigen Unebenheiten zu kämpfen hatten, oder dem leisen Wimmern eines Babys, wenn die Mutterwärme nicht mehr ausreichte.
Der kleine Fritz hatte sich tapfer gehalten, zumal er fest daran glaubte, dass der Papa nachkommen würde. Gleichwohl stellte er sich gut verpackt in den Decken und zusätzlich durch Teppiche von unten geschützt gegenüber den Erwachsenen oft schlafend, weil seine kleine Seele die enorme Belastung trotz aller Zuwendung sehr wohl spürte.
Im weißen Rund der Plane, die den Wagen schützend umspannte, sah er vor sich auf dem Bock die unregelmäßig hin und her schaukelnden Körper der Großeltern, scheinbar fatalistisch in ihr Schicksal ergeben. Eines der letzten Bilder von ihnen, das ihm für immer im Gedächtnis blieb.
Auf dem Eis des zugefrorenen Haffs, das inzwischen mit einer durchgehenden Schicht von Tauwasser bedeckt war, markierten liegen gebliebene, zum Teil von russischen Tieffliegern zusammengeschossene Gespanne den
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