Tyrannenmord
zu rechnen haben.«
Die weitere Fahrt verlief zwischen den Männern schweigend. Ben warf währenddessen immer wieder einen kurzen Blick über die Förde und registrierte, wenn auch diesmal mit schwarzmalerischer Wehmut eingefärbt, wie idyllisch sich diese Landschaft immer wieder erneut darbot: Die sanften, bewaldeten Senken, die einzelnen Eichen-Solitäre, die sich in den Hügeln zwischen alten Buchenwäldern duckenden, kleinen Reetdachkaten und dahinter immer wieder die blau hindurchblitzende See …
Er dachte an Elmshorn, wo er aufgewachsen, aber nie so richtig warm geworden war. Dominiert von dem trutzigen Gebäude der Köllnflockenwerke, dem rein pragmatisch geplanten Bahnhof sowie der eher zufällig zusammengewürfelten Architektur aus verschiedenen Epochen ließ dieser, von ihm als trist empfundene Ort, eine romantische Betrachtungsweise nicht gerade aufkommen. Die umgebende Industrialisierung, die ein homogenes Landschaftsbild nicht zuließ, tat ein Übriges. Da halfen auch die vielen Rosenbilder und die geschönten Kaianlagen im Stadtprospekt nichts.
Natürlich standen ihm damals – in jungen Jahren –, jedenfalls gefühlsmäßig unendlich viele Wege offen, denn wie die meisten Jugendlichen schwelgte auch er phasenweise in der Scheinwelt der Gesamtheit aller Möglichkeiten, aus dem sich günstigenfalls der Mut nährte.
Aus der einstigen Vielfältigkeit das Erfolg versprechend Richtige für das eigene Leben auszuwählen, war schon eine Kunst. Aber selbst wenn dieses optimal gelänge, konnten einem immer wieder Schicksalsschläge treffen, die nicht beeinflussbar waren. Und den beiden jungen Wirtsleuten dämmerte schmerzlich, dass nun die Reihe an sie war, diese bittere Pille, wie unzählige, mehr oder weniger gestrandete Existenzen schon vor ihnen, ebenfalls zu schlucken.
Bis vor Kurzem hatten er und Nina darüber kaum einen Gedanken verloren, die Arbeit war zwar hart, aber irgendwann wären sie aus dem Gröbsten raus, ihr beider Lebenstraum hatte sich erfüllt und dann kam noch der kleine, propere Moritz dazu … Besseres konnten und wollten sie sich eigentlich gar nicht mehr vorstellen. Da sie keine Berührungsängste hatten, waren sie im nahen Dorf wohlgelitten und so stellte sich nach und nach so eine Art Heimatgefühl ein, ja, sie konnten sich inzwischen sogar gut vorstellen, hier gemeinsam alt zu werden.
Und nun drohte ihr real gewordener, gleichwohl lang ersehnter Traum wie eine Seifenblase zu zerplatzen? Sollte das wirklich schon alles gewesen sein? Und warum gerade sie, auch diese Frage ließ Ben in seiner Verzweiflung nicht aus, obwohl sein Inneres längst wusste, dass diese müßig war.
Und was wurde aus dem Personal? Gut, die saisonalen Aushilfskräfte kamen wohl mit der Zeit woanders unter. Aber was geschah bloß mit Raoul, den er damals buchstäblich von der Straße aufgelesen hatte und der heute eigentlich nicht mehr wegzudenken und rein gefühlsmäßig im Lauf der Jahre fast zu einem Teil ihrer kleinen Familie geworden war?
Irgendwann hatte Raoul mal durchblicken lassen, dass da noch ein mit den Gesetzen in Konflikt geratener Bruder lebte, der sich im Untergrund bewegte und seine finanzielle Unterstützung brauchte. Ja, es hing so verdammt viel miteinander zusammen und voneinander ab, und Ben graute vor dem Tag, an dem er Raoul seine Entlassungspapiere aushändigen musste.
»Glaubst du eigentlich an Gott?«, fragte er seinen Mitstreiter unvermittelt, gerade als sie am Ortseingang zu Flensburg an einem Hof mit Massentierhaltung vorbeifuhren, den er jedes Mal aufs Neue als Schandfleck empfand.
»Also, nach der obligatorischen ›Zwangs-Konfirmation‹ durch meine Eltern«, Joe grinste, »habe ich mich hauptsächlich über die materielle Zuwendung, sprich: Geschenke erfreut. Eine positive Berührung mit der Kirche hatte ich eigentlich nur über die Jungschar erfahren, wo wir das Glück hatten, dass ein angehender Vikar sich als ein begnadeter Märchenerzähler entpuppte und uns auf seinen wunderbaren Fantasiereisen mitnahm.« Joe gähnte und fuhr fort: »Mit diesem Ausnahmetalent konnte der Pfarrer später im Konfirmandenunterricht allerdings nicht mehr punkten. Zumeist haben wir uns hinter vorgehaltener Hand über ihn lustig gemacht, aber da mag unsere Pubertät wohl mit im Spiel gewesen sein. Wir näherten uns dem kritischen Alter, wo man alles in der Welt auseinandernehmen will, und von daher«, er unterbrach sich kurz und sah zum Burger King hinüber, vor dem sich gerade eine
Weitere Kostenlose Bücher