Über Alle Grenzen
geplatzt. Die Nacht dort, ein zweifelhaftes Essen im Zug oder die vielen chinesischen Soldaten, die ich in früheren Leben aufgestapelt hatte, waren offenbar zuviel. Hannah und ich wachten morgens mit hohem Fieber auf. Als wir zum feinen Hotel wankten, um unsere trockenen Kleider zu holen, sah Pedro sofort, wie es uns ging. Er und Jacek räumten ihre Betten und wollten selbst auf dem Boden schlafen. Ich schickte Kurt, Ilse und Burkhard mit einem der letzten Flüge voraus, bevor Geschäfte und Behörden an Tibetisch Neujahr schlossen. Sie sollten alles in Lhasa vorbereiten, und ich wünschte nicht, dass sie sich um unseren Zustand kümmerten.
Diese Erfahrung als Segen und als das freie Spiel des Geistes anzusehen, war nicht leicht. Wir waren niemals zuvor so krank gewesen. Pedro und Jacek waren rührend, während wir zehn Tage mit 40 bis 41 Grad Fieber und gewaltigen Kopfschmerzen unsere karmischen Schulden in China abschwitzten. Die Unterhaltung wechselte zwischen privatkapitalistischen Kung-Fu-Filmen aus Hongkong und den spannenden Träumen, die hohes Fieber erzeugt. Draußen verschlechterten die Chinesen die Luft noch durch das kiloweise Abbrennen von Feuerwerk. Sie hörten Tag und Nacht nicht auf.
Rechtzeitig zum erstmöglichen Flug beschlossen Hannah und ich, lieber in Tibet als in China sterben zu wollen. Die Fortsetzung des Himalaya in Osttibet macht einen großen Bogen nach Norden, und Pedro machte auf dem Flug die ersten verbotenen Aufnahmen für unseren Videofilm “Geheime Reise durch Osttibet”. Die Landebahn lag in einer braunen Steinwüste, und die ersten Tibeter, denen wir begegneten, sahen klein und verschlissen aus, waren aber warm gekleidet. Sie trugen dreieckige rote und grüne Neujahrsflaggen ohne buddhistische Zeichen, womit sie offenbar wieder ihre Häuser schmücken durften. Während wir darauf warteten, dass die Busfahrer sich bequemten, hundert Meter zu fahren, um uns am Flugzeug abzuholen, spürten wir ein weiteres Mal, wie gleichgültig und sinnlos den Chinesen die Welt anscheinend war. Sie kamen erst, als wir ihnen Prügel androhten.
Der Schotterweg nach Lhasa wand sich einen Fluss entlang, mit einem Pinkelstopp, der furchtbar stank. Ich fragte mich, was man wohl essen muss, um solch einen Geruch hervorzubringen. Wenige Tage danach bekam ich die Antwort: Es waren die übel riechenden grünen Zwiebeln, die aus einem Tal im Norden stammen.
Der Potala - Palast des Dalai Lama
Lhasa war viel kleiner als man denkt. Einige Verwaltungsgebäude und eine breite Straße mit ein paar Ampeln zierten den Weg. Stieg man aus dem niedrigen Bus, dessen Fenster einen davon abhielten, nach oben zu schauen, stand man schon unterhalb des riesigen, strahlenden Potala - dem Palast der Dalai Lama. So zerstört und arm Tibet auch war, nach China war es eine Weide der inneren Freiheit. Schön war Lhasa nur, bis sich die Chinesen 1993 an der Welt für die nicht in China stattfindende Olympiade im Jahr 2000 rächten und die kulturträchtige Altstadt Lhasas einfach plattwalzten.
Wir wohnten im Banakshol-Hotel an der “Glückstraße”, einer der wenigen tibetischen Gasthöfe, der für Fremde nicht verboten war. Sie waren ständig überfüllt, während die meisten chinesischen Hotels leer standen. Da sie die Sprachen nicht kannten, konnten die Westler ihre politische Einstellung nur auf diese Weise ausdrücken, und täglich hörte man jemanden, der über seine Reisepläne erzählte, sagen: “Tibet sicher, aber niemals wieder China.” Irgendwie konnten die Rotchinesen andere Menschen nicht gut behandeln. Ihre Gefühle lagen zwischen Beleidigtsein und Eifersucht mit gelegentlichen Orgien von Schadenfreude. Regelmäßig erinnerten wir uns an chinesische Freunde in der freien Welt und hofften, nicht zu rassistisch zu werden.
Vor dem Jokhang
Bei der ersten Runde um den Jokhang, den Stadtkern Lhasas, und seine wichtigsten Tempel geschah etwas, das Pedro volle vierzig Minuten seiner kostbaren Videozeit wert war. Am Haupteingang des riesigen runden Baus scharten sich Tibeter um mich. Sie waren vom kraftvollen Schlag, mit langen Gesichtern und roten Neujahrsschnüren in den Haaren: Krieger der Khampastämme Osttibets. Nur sie hatten wirklich gegen die Chinesen gekämpft, und sie waren die einzigen im Land, die wie richtige Männer wirkten. Völlig mitgenommen von der zeitlosen Bekanntheit des Geschehens - all das klare Licht und die Menschen, die sich in Zeitlupe verbeugten und ihre Opferungen machten - bemerkte
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