Über Alle Grenzen
ich, dass auf der nahen Ebene auch etwas geschah. Ich wurde gründlich gemustert. Es ging aber weder um Pass noch um Geld. Die Schwingungen waren ganz anders. Plötzlich stieß der Krieger vor mir seinen Kopf fast in meinen Bauch, und ohne nachzudenken, segnete ich ihn. Dann kamen sie von überall her. Immer noch halbkrank, wurde ich die nächsten paar Stunden von Tausenden um den Jokhang getrieben, die alle gesegnet werden wollten. Wie auch im Westen verwendete ich die runde Silberdose mit Karmapas Reliquien, die er selbst zu diesem Zweck gefüllt hatte. Bei jedem späteren Halt in Tibet geschah das Gleiche, und den Chinesen fielen fast die Augen aus dem Kopf. Ein tibetischer Rinpoche wäre nicht lange in Freiheit geblieben, was sollten sie aber mit einem Westler anfangen?
Der “Lowo”
Die Vollmondnacht Februar 1986, zwei Wochen nach Neujahr, wurde tibetische Geschichte. Schon nachmittags summte die Stadt vor gestauter Energie, während die Chinesen die Zugangswege zum Stadtzentrum mit Bussen und Militärautos absperrten. Es war deutlich, dass nur geladene Gäste zur Zeremonie am Abend erwünscht waren, also luden wir uns selbst ein. Seit sechsundzwanzig Jahren sollte der erste “Mönlam Chenmo” stattfinden, was übersetzt “Großes Gebet” heißt. Wir sprangen über einige Jeeps an den Soldaten vorbei, ohne dass sie uns stoppen konnten, und täuschten die Polizei, indem wir uns sofort auf dem offenen Platz hinter dem Jokhang verstreuten. Dann verschwanden wir unter den paar hundert Auserwählten, die vor dem Gebäude standen. In grellem Scheinwerferlicht befestigte eine Gruppe Mönche und Laien große schwarze Tafeln mit vielfarbigen Ausschmückungen aus Butter auf einem hohen Gerüst. Sie stellen Opferungen für die Buddhas dar, und die Lage war rührend und peinlich zugleich. Auch wenn wenig Gefühlsentfaltung vor den laufenden Kameras der Chinesen möglich war, hatten die Tibeter wenigstens eine kleine Freiheit zurückgewonnen. Etwa zweihundert Mönche aus den drei großen Gelugpa-Klöstern beteten gleichzeitig. Früher zählte man 20.000, und dennoch wirkte es so, als wären es viel mehr. Der Panchen Lama war anwesend, und obwohl wir ihn jetzt aus nächster Nähe sahen, konnten wir uns keine endgültige Meinung über ihn bilden. Einerseits sah er Karmapa sehr ähnlich, andererseits spürte ich kein richtiges Kraftfeld. Vielleicht lag es auch an den harten Folterungen der Chinesen, die er erlebt hatte. Er war genauso wenig offiziell geprüft worden wie auch der spätere chinesische Karmapa-Kandidat Urgyen Trinley und der nachfolgende Panchen Lama, die beide in den 90er Jahren durch die chinesischen Kommunisten eingesetzt worden waren.
Die Tibeter waren todunglücklich über das Verhalten des Panchen Lama, was wir gut verstanden. Als wir ihn das erste Mal sahen, gab er gerade Tausenden zusammengequetschter Zuhörer den Rat, sich häufiger zu waschen und nicht zu klauen, da jetzt viele Touristen in ihr Land kommen würden. Alle waren entsetzt, dass er zu nah mit den Besatzern des Landes zusammenarbeitete, und vor allem stieß sein ständiges und wiederholtes Lob der Chinesen heftig auf. Obwohl die Tibeter aus Gewohnheit dem Dalai Lama für alles Gute in ihrem Leben danken: Hätte der Panchen Lama nicht aus dem Zentrum der Macht heraus - er war zu einem der dreizehn Vizepräsidenten Chinas aufgestiegen - kräftig die Hebel gezogen, wäre aus ihren neuen Freiheiten sicher nicht viel geworden. Die unterdrückten Völker der Welt schätzen ihre tragischen Helden viel mehr als die Taktiker, die dafür sorgen, dass ihr Leben überhaupt auszuhalten ist. Die Vorstellung, dass ein künftiger Karmapa-Kandidat einmal in diese Verräterrolle gepresst werden könnte, verschaffte uns schon damals eine Gänsehaut und war ein Grund dafür, dass Hannah und ich uns 1992 in die tibetische Politik einmischten. Einen Tag vor seinem Tod in Shigatse im Januar 1989 drückte der Panchen Lama seine wirkliche Meinung aus. Er sagte, dass die Chinesen sein Land und auch sein Volk zerstört hätten. Es würde spannend sein, welche Beurteilung sich in den nächsten Jahren über ihn durchsetzen würde.
Sobald das Auto mit dem Panchen Lama weggefahren war, öffnete das Militär die Schleusen. Jetzt ging es los: Tausende Tibeter kamen unter den Bussen hervor gekrochen, viele mit zerrissenen Kleidern und voller Öl. Sie drückten sich gegenseitig an die Hausmauern, der riesige Platz füllte sich schnell. Alle wollten einfach nur
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