Über Alle Grenzen
Dann sollte aber auch etwas geschehen. Wir wollten den fünfeinhalb Kilometer hohen Pass im Dauerlauf erreichen. Es war so selten bei unserer Arbeit, dass auch die Tagesstunden dem Körper eine Gelegenheit boten, den eigenen Leistungsstand zu erkennen. Die Frau in dem kleinen Teehaus mit dem guten Ausblick, der ich beim Aufstieg in wenigen Worten die Karmapa-Meditation beibrachte, hatte nie etwas Ähnliches gesehen. “Erst wart ihr hier zusammen, dann seid ihr ganz schnell den Berg hoch gelaufen, dann kamen einige von euch herunter, und jetzt seid ihr wieder hier!”, sagte sie erstaunt, als Tomek und ich abends vorbeigetaumelt kamen. Wir waren gelaufen, bis wir umfielen, und sobald wir wieder atmen konnten, weiter gerannt, bis wir bei den Eiswänden der Berge anlangten, in fünf Kilometern Höhe. Nicht wissend, wann es dunkel werden würde, liefen wir den Berg sofort wieder hinunter, während unsere Freunde der ersten Gruppe später und stilvoller ankamen. Auch sie hatten eine schöne Zeit gehabt.
Am nächsten Tag kehrten wir zurück nach Jomsom, der Hauptstadt Mustangs. Wir waren bei der Sippe von Lopön Tsechus wichtigstem Helfer eingeladen. Er war Buddhist, hatte aber den Hindunamen Krishna, was in den kulturell gemischten Gebieten des Himalaya vorkommen kann. Als wir nachmittags das Haus betraten, warteten einige sehr ungewöhnliche Leute auf uns. Normalerweise kann ich recht leicht die Anhänger der verschiedenen Schulen unterscheiden, die Merkmale sind im Osten wie im Westen gleich: Die Gelugpas wirken oft wie Internatsschüler, die Sakyapas - vor allem die Damen - willensstark, wir Kagyüpas - wenigstens meine Schüler - kernig, und die Nyingmapas wirken oft so, als bestünden sie aus Teilen, die nicht ganz zusammenpassen. Diese hier waren aber jenseits des allgemeinen “buddhistischen Bereichs”. Manche hatten große Köpfe und sehr kleine Körper, bei anderen war es umgekehrt. Der Leiter war lang, dünn und hatte den schmalsten Kopf, den ich jemals gesehen hatte.
Sie waren jedoch nicht gekommen, um bewundert zu werden. Lopön Tsechu hatte sie gebeten, uns einen großen Dienst zu erweisen, und wir folgten ihnen sofort über Stock und Stein, die erhöhten Lehmpfade zwischen den Feldern entlang. Nach etwa einer Stunde Wanderung, meistens bergauf und an unglaublichen Berghängen vorbei, erreichten wir ein Dorf unter einem graublauen Eisberg. Ein halbes Dutzend Menschen brachte verschiedene Schlüssel aus unterschiedlichen Richtungen, und als die Tür schließlich geöffnet war, folgten wir ihnen in einen Tempel.
Wegen des blendenden Lichts draußen wirkte der Raum zuerst dunkel. Er hatte noch dazu eine sonderbare Schwingung. Es dauerte eine Weile, festzustellen, dass wir in einem Bön-Tempel waren, bei Schamanen zu Gast. Während wir - plötzlich hellwach - Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Buddhismus erkannten, öffneten diese mit Schlüsseln, die wiederum von mehreren anderen Männern getragen wurden, einen kräftigen Lederkasten. Jetzt wurde es spannend. In Dutzende von dünnen Seidentüchern gehüllt kamen die Gegenstände zum Vorschein, für die Karmapa auf seiner Reise von Tibet nach Bodhgaya 1956 einen großen Umweg gemacht hatte. Schon 1970 hatte er uns gesagt, dass wir sie unbedingt sehen müssten: Es war die denkbar erlesenste Sammlung von Guru-Rinpoche-Reliquien. Der Schatz stammte aus der Zeit vor 746, als dieser hohe Lama sich fünf Jahre in Tibet aufhielt und die Lehre dort verbreitete. Die Sammlung hatte den Namen “Kuternga” und bestand vor allem aus Statuen, die Guru Rinpoche selbst gemacht hatte. Des Weiteren waren seine Schuhe dort zu sehen und eine Weste, die er als Dreizehnjähriger getragen hatte, sowie Kleidungsstücke, auf denen weibliche Buddhas getanzt hatten. Wir legten jedes Stück auf den Kopf und dachten dabei, dass sie jetzt in unsere Herzen fielen und mit uns verschmolzen. Mit viel Glück erreichten wir gerade Jomsom, als es halsbrecherisch dunkel wurde.
Vom nächsten Tag an wurde nicht mehr geflogen: Die Monsunwolken ballten sich schon am Horizont zusammen. Der Pilot wagte aber noch zwei Landungen, wodurch unsere ganze Gruppe aus Jomsom herauskam. Sonst hätten wir Männer fünf Tage durch Blutegel und Dauerregen wandern müssen. Wir fuhren mit dem Bus von Pokhara nach Kathmandu, das sich jetzt wie eine Großstadt anfühlte. Wieder im schönen Vajra-Hotel angekommen, planten wir die nächsten Wochen. Es war immer noch möglich, die Freunde zu Fuß nach Tibet
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