Über Alle Grenzen
mitzunehmen. Zwar stürzte auf den Pässen fast täglich ein Träger ab - oft betrunken -, aber wir würden weniger beladen sein als sie, und mein Mo sah gut für uns aus. Der Weg zu Gebieten, die die Wartezeiten auf Laster und Busse wert waren, würde aber viele Tage dauern, und seit dem Erdrutsch fuhr kaum jemand.
Unser wirklicher Wunsch war eine Fahrt nach Bhutan, eigentlich eine Unmöglichkeit. Die Behörden lassen jährlich nur 2.000 Besucher ins Land, und Touristen müssen 200 Euro pro Tag bezahlen, bei voller Verpflegung. So war es jahrelang gewesen. Sie wollten damit die Zerstörung ihrer Kultur verhindern, die in Nepal seit zwanzig Jahren voranschritt. Außerdem erlaubten sie keine Gruppen mit über fünfzehn Personen. Lopön Tsechu aber war ein mächtiger Mann. Schon in Europa hatte er den Wunsch gehabt, uns einreisen zu lassen. Seine kostbaren Ferien in den Niederlanden um eine Woche verkürzend, war er nach Bhutan voraus geflogen, um uns zu helfen. Zur selben Zeit wurden Heiratspläne geschmiedet. Vier seiner Nichten sollten jetzt den König Bhutans förmlich heiraten, nachdem sie schon ihre Fruchtbarkeit bewiesen hatten.
Unsere Papiere sollten in Kalkutta im Bhutan House ausgestellt werden. Für den Weg dorthin vertraten Niels und ich die Reisearten unterschiedlicher Weltanschauungen: Niels sagte: “Fliegt nach Kalkutta. Es kostet nur 70 Dollar, und ihr habt es hart genug gehabt. Seid ein bisschen gut zu euch selbst.” Ich dagegen machte den Vorschlag: “Was euch nicht umbringt, macht euch stark. Ihr sollt die Erfahrung von überfüllten Nachtbussen nach Siliguri und weiter nach Kalkutta bekommen. Die senkrechten eisernen Sitze und der fehlende Schlaf werden euch neue Seiten eures Geistes zeigen. Außerdem spart ihr 55 Dollar, die ihr dann zum Einkaufen verwenden oder in Bhutan als Opferung geben könnt.” Achtundzwanzig Leute folgten der harten Schule. Die sieben, die flogen, waren in einem teuren Hotel am Flughafen beschwindelt worden und gesellten sich schnell wieder zur Hauptgruppe bei der Heilsarmee in der Sutter Street.
Kalkutta bot vielseitige Erfahrungen. Hier starben jeden Tag Menschen in den Straßen. Anfang der 70er Jahre, als wir wegen der Visa regelmäßig aus dem Himalaya in die Stadt fuhren, hatte man es viel schwerer, ein Zimmer zu bekommen. Das Land wurde bis vor wenigen Jahren ständig steifer und bürokratischer, und so hatten immer weniger Leute Lust, nach Indien zu fahren.
In einem Stockwerk des Bhutan House wussten sie von nichts. Im anderen zeigte sich wieder der Nutzen meiner Mos: Weil Fernsprecher in diesen Teilen Asiens nichts taugen, verschafften sie uns die nötigen Auskünfte. Auch finanziell hatten wir großes Glück: Sie bedauerten sehr, dass das teure Flugzeug, das wir hätten nehmen sollen, gerade überholt wurde. Stattdessen schickten sie Busse nach Baghdogra bei Siliguri. Es hätte nicht besser kommen können. Jetzt konnten wir die Berge während der Fahrt sehen und gleichzeitig viel Geld sparen. Zwei gute Busse warteten am Himalayarand; zwar keine deutschen, sondern japanische, aber ganz neue. Nach der erstaunlich langen Strecke, bei der man den Vorbergen des Himalaya nach Osten folgt, rollten wir durch die “Ehrenpforte” nach Puntsoling ein. Diese Stadt ist Bhutans Fenster zur Welt. Zwei Hotels hatten Platz. Als alle Zimmer verteilt waren und wir gerade zu einem Guru-Rinpoche-Tempel gehen wollten, fing uns eine Gruppe alter tibetischer Freunde ab. Sie hatten alle nur eine Frage: “Wann sehen wir ihn?” Wie so oft mussten wir antworten, dass es bestimmt bald soweit sein würde, dass Karmapas Aussagen über seine nächste Wiedergeburt geschichtlich immer eindeutig seien, und dass die Linienhalter bestimmt ihre Gründe hätten, es bis dahin geheim zu halten. Wie üblich wollten viele nicht glauben, dass wir nicht mehr wussten, aber tatsächlich dachten wir selten darüber nach. Es gab viel zu tun, um so vielen Schülern wie möglich eine Verbindung zu Karmapa zu vermitteln, so dass wir uns lieber würden überraschen lassen. Dass es ohne chinesischen Einfluss zum richtigen Zeitpunkt in Eintracht geschehen würde, war für uns damals selbstverständlich.
Am nächsten Morgen, während die Freunde die Busse beluden, sprangen wir zum Tempel, in dem die stehende Guru-Rinpoche-Statue wirklich sehr eindrucksvoll ist. Dann ging es weiter. Die geteerte Straße schlängelt sich am “Guesthouse” und dem “Rest-House” vorbei, in dem wir 1970 erst Staatsgäste
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