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Über Alle Grenzen

Über Alle Grenzen

Titel: Über Alle Grenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lama Ole Nydahl
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wollten wir unsere Papiere in einem Amt stempeln lassen. Es wurde eine einmalige Erfahrung, Stoff für einen heutigen Kafka. Wenn der Alltag der Menschen so aussah, waren ihre lauwarmen Gefühle Gorbatschows Glasnost gegenüber besser zu verstehen. Als wir schließlich das Amt in einem ehemaligen Kino entdeckten, saßen dort drei schwere Musen in voller Schlachtordnung verschanzt. Die Dienstjüngste war etwas von der Schranke entfernt, Nummer zwei, links hinter einem Regal halb versteckt, zeigte den Besuchern ihren breiten Rücken, und die Dritte und gefährlichste Vertreterin dieser Gattung konnte in einem Nebenraum durch eine halboffene Tür nur geahnt werden. Ihr Ziel war eindeutig: durch das Gestatten von überhaupt nichts die Vollkommenheit der herrschenden Ordnung zu bestätigen und dabei die Hilfesuchenden möglichst klein zu machen. Während wir warteten, trieben sie ein Dutzend Besucher in die Verzweiflung, indem sie sie einfach der Reihe nach beschimpften. Niemand erreichte irgendetwas bei ihnen. Die Szene wirkte völlig unwirklich, und lange erwarteten wir, dass jetzt die Oscars verteilt würden. Erst als viele gebückt den Raum verlassen hatten, tat es mir Leid, kein Russisch zu können. Ich hätte gerne etwas für die Erziehung der drei Damen getan.

    Die Leningrader Gruppe brauchte Zeit, um so viele Belehrungen zu verdauen. Also besuchten wir Freunde in Moskau, die uns beim letzten Mal eingeladen hatten. Moskau war viel verwirrter als Leningrad. Die großen und starken Männer waren beim Heer oder der Polizei, oft mit einer Ausstrahlung von erstaunlicher Macht. Die verbrauchten Menschen waren Arbeiter, und Menschen aus den asiatischen und arabischen Ländern lebten vom Schwarzhandel und Ähnlichem. Um einen vernünftigen Preis zu bekommen, mussten wir die Taxifahrer gegeneinander ausspielen, fast wie in Indien. Dann folgte zwischen grauen Wohnblocks eine endlose, aber beeindruckende Fahrt auf breiten, leeren Straßen.
    Die Moskauer Gruppe war um einiges unselbständiger als die Leningrader, sie hatte zu ihren vielseitigen buddhistischen Wurzeln noch keine Stellung bezogen. Ein Gelugpa-Büro des Dalai Lama versuchte vergebens, die Entwicklung zu steuern. Obwohl sie es gut meinten, verpassten sie völlig den Markt. Der althergebrachte Mönchsbuddhismus, den sie so tapfer wiederherzustellen versuchten, ist reine Vergangenheit. Neben unseren lebensnahen Belehrungen und im Alltag verwendbaren Meditationen wirkte er wenig anziehend.
    Mehr als an anderen Orten fand ich es in Moskau wichtig, die Leute zu Partnern in ihrer eigenen Entwicklung zu machen. Ich bat sie bei unserer Begegnung mehrmals, ihrem Wissen zu vertrauen und es zum Besten anderer auch anzuwenden. Obwohl so unterschiedliche Karmas kaum zusammenbleiben, brauchten außer zweien noch alle die Zuflucht. Sie erhielten damit den Segen Karmapas für ihre weitere Entwicklung. Kein Lehrer hatte offensichtlich diese wichtige wie einfache Handlung ermöglicht.
    Um viereckige Tische auf unterschiedlich hohen Stühlen sitzend, bot das schief gebaute Architekturbüro in einem ehemaligen Kloster zur Geschichte den richtigen Rahmen. Während der russische Cognac verschwand, den Hannah und ich mitgebracht hatten, verband unsere buddhistische Deutung von den Geschehnissen der großen Welt die ganze Gruppe. Heute wächst sie in Moskau aus eigener Kraft, aber damals brauchten die meisten unbedingt Titel und Gütesiegel tibetischer Lamas, um sich für Meditation entscheiden zu können. Das passte gut. Für nur 50 Dollar – wir brauchten kaum noch schwarz zu wechseln, da am Tag unserer Ankunft der Kurs von 2,50 Mark für den Rubel auf 25 Pfennig gefallen war – konnten wir neun von ihnen die Fahrt nach Polen und zurück bezahlen. Ein waches Bewusstsein für solche Gelegenheiten ist nach wie vor der Schlüssel zum Erfolg unserer Arbeit rund um die Welt, und bisher haben wir mit wenigen tausend Mark sehr viel ausrichten können. Wir konnten es kaum erwarten, ein Dutzend Leningrader zum gleichen Preis einzuladen.

    Zuflucht in Russland

    Der Zug nach Leningrad zurück hatte mehrere Stunden Verspätung, und so lernten wir die sozialistische “Wartekultur” des Landes kennen. Das konnten sie! Nach zwei Tagen der Festigung drückte mir beim Abschied ein sehr süßes Mädchen einen unregelmäßigen Kupferklumpen in die Hand. Es war eine zweihundert Jahre alte Fünf-Kopeken-Münze, die noch heute für mich die zeitlose Kraft Russlands ausdrückt.
    Die Warschauer Gruppe

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