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Über Alle Grenzen

Über Alle Grenzen

Titel: Über Alle Grenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lama Ole Nydahl
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Einzelstaaten, beginnend mit Litauen, Lettland und Estland. Im jetzt souveränen Russland wird Boris Jelzin Präsident.
Die irakische Armee marschiert am 2.8. in Kuwait ein.
Die jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina erklären ihre Unabhängigkeit.
    Nach einem nützlichen Abend im Kreuzberger Zentrum ließen wir das Auto in Berlin zurück und nahmen den Nachtzug nach Leningrad. Für meinen Porsche und Mercedes jagenden tiefer gelegten Audi Quattro Turbo 200 waren die Straßen und das Benzin Osteuropas nicht gut genug.
    Viele Gebiete erinnerten an Westeuropa kurz nach dem Krieg. Stalin hatte zwar Asien um 500 Kilometer nach Europa verschoben und die Ostpolen in frühere deutsche Gebiete versetzt, doch an der Landschaft und den Bauten hatte sich nur wenig geändert. Da die Verhältnisse in den baltischen Staaten lange Zeit die Schlagzeilen der freien Welt beherrschten, genügt es zu sagen, dass die südschwedisch anmutenden Landschaften entweder im Dornröschenschlaf lagen oder voller Müll waren. Bis kurz vor Leningrad sprachen nur die Beamten russisch; die Passagiere, die ein- und ausstiegen, unterhielten sich auf Polnisch oder in den örtlichen Sprachen. Bei Vilnius ging eine so bildschöne Frau am Zugwagen vorbei, dass mir der Atem stockte. Sie trug eine Uniform, so dass es zweifelhaft war, welches Karma sie in diesem Leben aufbauen würde. Im letzten hatte sie bestimmt ein paar Dinge richtig gemacht.
    Die Freunde warteten am Leningrader Bahnhof. Sie hatten alles seit unserem letzten Besuch zusammengehalten. Wir wohnten in einem der grauen Ein-Zimmer-Kästchen – aber immer mit Bad –, in denen unzählige Familien des Landes aufeinander gestapelt lebten.
    Spannende Leute kamen und gingen, oft Künstler mit einem reichen Innenleben. Eine halbe Stunde Fernsehaufnahmen über die Natur des Geistes sollte im “Fünften Rad” gesendet werden, dem einzigen Programm ohne Soldaten im Gleichschritt und stundenlangem Verlesen unterschiedlicher Herstellungszahlen. Damals missglückte leider die Tonaufnahme, aber seit dieser Zeit waren wir oft auf russischen Bildschirmen zu sehen, und die Menschen vergessen nichts. Da unsere eigene Gruppe so gut wuchs, blieb nun Zeit, auf Einladungen einzugehen. Die buddhistische Vergangenheit Russlands war einfach furchtbar, und die meist Älteren in den Kleingruppen und ihre Lehrer waren die Überlebenden von fünfzig Jahren Unterdrückung und Hinrichtungen.

    Die mongolischen Stämme der Burjaten und Kalmücken gehörten seit etwa 1750 zur “tugendhaften” Gelugpa-Linie; ihre Gelehrten wurden in der Mongolei ausgebildet. Sie waren von Stalins Polizei fast ausgerottet worden, und man findet noch heute Gräber mit bis zu 5.000 Mönchen, jeder mit einer Kugel im Kopf. Eine weitere Einladung kam von einer kleinen “Dzogchen”- oder Dandaron-Gruppe, ebenfalls mit Wurzeln nahe des Baikal-Sees. Ihren Leuten war es auch nicht besser ergangen, und ihr Lehrer war wohl im KZ psychisch völlig zerstört worden. Ihre Hauptübung war die “Gana-Puja”, bei der man isst und zugleich singend das Essen opfert. Diese Übung, vor allem durch reichlich Alkohol beflügelt, gefiel vielen, vertrug sich aber schlecht mit den bürgerlichen Tischsitten meines Elternhauses.
    Was diese alten Gruppen berichteten, konnte einen krank machen. In den 30er Jahren beispielsweise war die Geheimpolizei in das Ostasiatische Institut eingedrungen, in dem einige der Erzähler damals arbeiteten. Da die Polizei die Schriftzeichen ihrer Texte nicht lesen konnte, hatten sie kurzerhand die Angestellten zu japanischen Spitzeln erklärt und die Hälfte im Hof erschossen. Der Rest bekam zwanzig Jahre Arbeitslager in Sibirien. Von 5.000 eingesperrten Gelugpa-Gelehrten hatten nur zwanzig überlebt, und Mitte der 50er Jahre jäh auf freien Fuß gesetzt, hatte keiner von ihnen die Kraft für einen neuen Anfang. Diesen erwarteten sie jetzt von uns Europäern, die immer wieder die Qualität in ihr Land brachten. “Die Menschen werden es von dir annehmen, Lama Ole”, sagten sie, “bitte komme so oft, wie du kannst.”

    Leningrad – heute Petersburg – war genauso trostlos wie das letzte Mal. Die Sonne schien nicht einmal, aber das bedeutete weniger Ablenkung vom Lernen und Freundschaften schließen. Als eine Menge begabter Schauspieler in die kleine Wohnung kam, wurde uns bewusst, dass wir gerade buddhistische Geschichte machten.
    Um unsere Gastgeber zu schützen – und auch aus Neugier –,

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