Über Alle Grenzen
Genau das war Karmapas Wunsch, und es war schön, dass die Reiselust der Nordeuropäer ihm diese Freude bereitete.
Ich selbst lernte, wie unpersönlich Schmerz sein kann. Pawo Rinpoche, ein sehr wichtiger Linienhalter, hatte sich einen Wirbel gebrochen, weshalb er seinen Thron nicht aus eigener Kraft besteigen konnte. Als ich seine damals neunzig Kilo auf meine Arme nahm, muss mich einen Augenblick sein Schmerz erreicht haben. Ein weißer Blitz traf meinen Rücken. Ich ließ ihn einfach durchziehen und setzte Rinpoche sanft auf sein Kissen. Der Schmerz war sofort weg. Als ich ihn später fragte, warum er so unruhig gewesen war, sagte er: “Ich hatte Angst, meine Füße höher zu haben als Karmapa.” Viele angelernte Muster blieben offenbar auch auf den höchsten Ebenen bestehen.
Einige Äußerungen Karmapas nahmen den Faden eines Interviews in Kopenhagen wieder auf. Eine sehenswerte, fast zwei Meter große Journalistin einer unserer besten Tageszeitungen hatte damals stundenlang auf ihn gewartet. Sie wollte von Karmapa nur eins wissen: Was das Besondere am Bewusstsein der heutigen Menschen sei. “Darauf sollte ich eigentlich nicht antworten”, sagte Karmapa, “denn das bringt noch mehr Vorstellungen. Da du aber fragst, werde ich etwas dazu sagen: Moderne Menschen sind verwirrt. Da ihre Vorstellungen ständig zunehmen, haben sie immer weniger Zugang zu ihrer zeitlosen Natur.” Weitere Erklärungen dazu erfolgten in Lascaux, wenige Kilometer vom Zentrum entfernt. Björn und ich hatten die dortigen Höhlenmalereien aus der Steinzeit schon mit unseren Eltern besichtigt. Kurz vor der Schließung der Höhlen besuchten wir sie noch einmal mit Karmapa. Beim Rundgang wies ich mehrmals darauf hin, dass die Bilder jagdmagisch seien. Dass sie gemalt wurden, um Tiere besser beherrschen und töten zu können. Dann kam ich auf Karmapas Aussage in Kopenhagen zurück, mit der ich mich immer noch nicht abfinden konnte. Wenn ich auch sonst in allem mit ihm einig war, so stieß mir dieser Punkt doch heftig auf. Er passte keineswegs zu meiner eigenen Erfahrung. Ich erlebe die Menschen und ihren Geist als immer spannender und reiner, Tag für Tag, und bestaune vor allem die schnelle Entwicklung meiner Schüler. “Aber wir sind zumindest besser als die Leute von damals? ”, versuchte ich es noch einmal. “Nein”, antwortete Karmapa, und es sah nicht so aus, als wollte er noch mehr hinzufügen.
Vor seiner Abfahrt empfahl er den anwesenden Südafrikanern, mich einzuladen. Ich sagte natürlich zu und freute mich darauf, in einem weiteren Erdteil etwas aufzubauen.
Danach war ein großes Treffen in einem Schloss bei Paris geplant. Karmapa wollte, dass alle französischen Kagyü-Gruppen zusammenarbeiteten, und hier hätten die Ursachen zukünftiger Zersplitterungen beseitigt werden können. Leider kamen nur die “schon Geretteten”. Diejenigen, die gerade dabei waren, sich wichtige Stellungen in Kalu Rinpoches Arbeit zu sichern, hatten Unheil gewittert und blieben fern. Es gab also nicht viel zu vereinen. Glücklicherweise konnten einige einflussreiche Freunde versprechen, bei Reibereien zwischen den Gruppen zu vermitteln.
In Antwerpen hörten wir wundersame Geschichten. Es war gerade das geschehen, was Karmapa in Frankreich hatte vermeiden wollen. Schottische und französische Interessen waren in Belgien aufeinander geprallt. Einige frühere Freunde waren mit dem Lama, den Kalu Rinpoche bei ihnen zurückgelassen hatte, nicht zufrieden gewesen. Also nahmen sie die Spendenkasse mit nach Brüssel und steckten das Geld in ein stattliches Gebäude, das ein Zentrum für Akong Tulku werden sollte. Der Streit war so zäh und hintergründig, wie man es sich nur aus oftmals eroberten Ländern vorstellen kann. Sogar langjährige Idealisten scheinen häufig unfähig zu sein, überpersönlich und in größeren Zusammenhängen zu denken. Mit einem schiefen Lächeln gab Karmapa dem neuen Zentrum einen - dem alten verwandten - Namen, machte gute Wünsche, und wir reisten weiter.
Die Fahrt durch England war kalt und nass. Zwischenzeitlich schickte mich Karmapa nach München, um einen deutschen Karma-Kagyü-Verein auf die Beine zu stellen. Dort fand die Gründungssitzung mit mir als erstem Vorsitzenden statt. Wir folgten Karmapas ausdrücklichem Wunsch, dass ich ihn überall in unseren Zentren vertreten solle. Deshalb war es erforderlich, mich zum ersten oder zweiten Vorsitzenden eines Vorstands zu wählen, was seitdem auch um die ganze Welt
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