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Über Alle Grenzen

Über Alle Grenzen

Titel: Über Alle Grenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lama Ole Nydahl
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einfach ist.
    Kalu Rinpoches Schüler waren in dieser Hinsicht besonders schlecht gestellt. Er bestand darauf, dass buddhistische Lehrer den Titel “Lama” nur verwenden durften, solange sie nachts alleine schliefen. Den Mönchen fiel das außerhalb ihrer Klöster schwer, und sie waren oft sehr einsam. Die häufigen und zornigen Gerüchte bezüglich ihres Nachtlebens drehten sich jedoch weniger um das Einhalten des Zölibats, dem der Westen sowieso geringe Bedeutung beimisst. Sie entstanden vielmehr, weil die Frauen sich von den Mönchen als “gefühlsmäßig” ausgenutzt erlebten, was in Kalifornien zu ewigen Redereien führen kann. Dieses Problem war seit der Ankunft der ersten Rinpoches in Amerika ständig aufgetaucht, und außer bei den reifen Lamas in Portland und Santa Fe mussten fast überall verärgerte Damen beruhigt werden. Je höher der Rang des ohne Aufsicht lebenden Lehrers war, umso übler waren auch die Geschichten, die in Umlauf kamen. Tarthang und Trungpa Tulku waren dabei mit Sicherheit allen anderen meilenweit voraus.
    Nancy hatte einige Vorträge in Portland und Aberdeen in die Wege geleitet. Aberdeen lag im Sonnenschein gebadet; ein starker Finne war hier die Hauptkraft. In Seattle führte die nette Ann Robben die Gruppe an. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde dieses Gebiet Amerikas den Buddhismus nicht nur verbrauchen, sondern auch selbst etwas auf die Beine stellen. Doch dann fingen sie auch hier an, die unterschiedlichsten Richtungen zu mischen. Sie kamen dadurch auf die “Nur-Kopf-Schiene”, und mit der Entwicklung war es vorbei.
    Was mich überall in Nordamerika erstaunte - und vorerst auch in Lateinamerika - war, wie verschieden die Menschen aussahen und wie wenig junge Gesichter es in den Gruppen gab. Neunzig Prozent meiner europäischen Schüler hätten jederzeit die Musterungsbedingungen der Armee erfüllen oder an einer Modenschau teilnehmen können. Sie schaffen es leicht, die Nacht durchzufeiern und am nächsten Tag hart zu arbeiten. In Amerika hätte ich hingegen jahrelang am liebsten vor Freude geklatscht, wenn jemand erschien, der jünger war als dreißig. Wer die Frische der 60er Jahre nicht miterlebt hatte, zeigte hier im Allgemeinen sehr wenig geistige Offenheit.

    Die Wissbegierde der kanadischen Grenzpolizisten war kaum zu befriedigen. Die unberührte Landschaft und das gepflegte Zentrum außerhalb von Vancouver versöhnten uns jedoch bald mit dem ersten Eindruck des Landes. Hier hatte Kalu Rinpoche ein Jahr lang festgesessen, weil sein Gönner sauer auf ihn war. Karma Trinley Rinpoche vertrat hier seit mehreren Jahren. Wer sich über den Mönchsweg den höchsten Belehrungen Buddhas nähern konnte, war in Kanada gut versorgt.
    In Vancouver wartete eine Einladung. Freunde, denen ich vor Jahren in Woodstock begegnet war, hatten mir ein teures Ticket nach Whitehorse geschickt, eine Pionierstadt weit im Nordwesten nahe bei Alaska. Es versprach, spannend zu werden, und ich ging in den nächsten Second-Hand-Laden, um billige warme Kleider zu kaufen.
    Das Yukon-Territorium war atemberaubend. Alle festen Ideen wurden auf den Kopf gestellt, wenn Dauerfrost und lange Winter herrschten. Auf dem Weg vom Flughafen hörte ich nicht auf, Fragen zu stellen. Auf den ersten Blick wirkte alles unglaublich durchgeplant. Die Bäume, kleine Tannen, waren alle gleich groß und standen im selben Abstand zueinander. Sie waren jedoch nicht von einem übergenauen Gärtner gepflanzt worden, sondern mussten einfach so wachsen, um überleben zu können. Die Autos standen stundenlang mit laufendem Motor, damit sie nicht einfroren, und als ich am Anfang ein paar Mal versuchte, irgendwohin zu gehen, brannte die kalte Luft in der Kehle wie Feuer. Die Nächte waren jenseits jeder Beschreibung: Die Nordlichter sind wie wehende durchsichtige Schleier in ständig wechselnden Farben. Man bleibt einfach stehen und schaut, egal wie kalt es auch ist.

    Die Menschen waren wie das Land: raue Einzelgänger. Viele kamen zu meinen Vorträgen, was mich verwunderte, denn neben meinen einfachen Plakaten hing das Bild eines wohl gekleideten Herrn aus New York. Er versprach jede geistige Erfahrung, von Hellseherei über Heilung bis hin zur Astrologie. Ich dagegen konnte nur die Möglichkeit anbieten, etwas Einsicht in die Arbeitsweise unseres Geistes zu erlangen.
    Die ersten Tage wohnte ich bei meinen Gastgebern. Abends putzten wir zusammen in einem Supermarkt. Als ihnen die zahlreichen Besucher, die Tag und Nacht

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