Über Alle Grenzen
kamen, fand er geeignete Mittel. Er spielte dann mit ihren Geräten oder fotografierte sie, bis sie sich einen Augenblick entspannten. Dann gab er ihnen 100.000 Volt wahren Segen und setzte so Viren in ihre Neurosenprogramme, die ihr Leben dauerhaft veränderten.
… bis sie sich einen Moment entspannten
In Amerika störte mich jedes Mal das fehlende Wachstum. Das Überangebot an geistigen Wegen war nicht der einzige Grund dafür. Als freiheitsliebende Kagyü-Verwirklicher lag es uns nicht, neue Interessierte mit Selbstlob zu begeistern oder mit der Zugehörigkeit zu einer besonderen Gruppe zu ködern. Vor allem war es wirklich gegen unseren guten Stil, sie durch feste Versprechen an uns zu binden. Die Amerikaner fielen viel zu leicht auf die Sektentour herein, und eine solche Schwäche auszunutzen, wäre einfach unfein gewesen. So war es für Tibeter anderer Linien leicht, Karmapas Fußspuren zu folgen und ihre eigenen Gruppen in seinem Fahrwasser aufzubauen. Ein in England lebender Rinpoche, der 1993 durch einen Bestseller bekannt wurde, war darin sehr geschickt. Er hatte leichtes Spiel, weil er sich zugleich als Karmapas naher Verwandter ausgab. Da Westler immer von einer heilen Welt träumen, genügte das, um die allgemeine Unterscheidungsfähigkeit auszuschalten. So ließen sich Karmapas Schüler leicht für Kursangebote anderer Schulen anwerben und vergaßen darüber die Quelle des ursprünglichen Segens.
Wenn Kalifornier zu verkaufstüchtigeren Schulen wechselten, war das ganz in Ordnung. Verloren sie aber ihr Vertrauen oder hörten auf zu meditieren, was schade war, musste man die Rolle ihrer Lehrer dabei betrachten. Kein Zweifel, dass die meisten tibetischen Lamas, die geschickt wurden, in ihrem Denken viel zu eng und hierarchisch waren. Ihnen fehlte das Vertrauen in die Westler, die ja eigentlich ihre Gönner waren. Sich aus Unsicherheit abkapselnd, ließen die Lamas nur selten Hilfe zu und lernten kaum von ihrer neuen Welt. Sie hatten zu wenig Achtung vor der Reife eines vollen Lebens, und nur selten machten sie ihre Ideale zugänglich. Obwohl Karmapa häufig sagte, dass ein halbguter Lehrer besser sei als keiner und dass man während des Lehrens lernen würde, solange man das Band zu ihm hielt: Die heilige Kuh, die bis vor kurzem gute Lehrer daran hinderte, anerkannt zu werden, hatten wir von Kalu Rinpoche. Er bestand auf einer dreijährigen Gruppenzurückziehung mit vollem Zölibat. Höchst selten zieht das die Menschen an, die unsere Schule braucht: starke und selbständige Menschen mit der Fähigkeit, andere zu erwecken und zu schützen. Wäre diese Zurückziehung als eine Möglichkeit unter mehreren angeboten worden, hätte es viel lebendiger aussehen können. Eine Zusammenarbeit zwischen lebenserfahrenen Laienlehrern und denen mit der Mönchs-Nonnen-Ausbildung hätte allen genutzt.
Im Frühling 1981 kam Künzig Shamarpa, der ranghöchste Linienhalter, zum ersten Mal nach Europa. Seine feine Art macht vielen das Große Siegel zugänglich, und Karmapa hatte ihn als seinen Stellvertreter geschickt. Erst unterrichtete er drei Wochen in Schottland, wo er nebenher schnell sein Englisch verbesserte. Dann kümmerte sich Hannah um den Rest der Reise, auf der er sich als so ehrlich und geradlinig entpuppte, dass sie oft nicht wusste, wie sie ihn vor den Glaubenswütigen schützen sollte. Genauso blieb es. Künzig Shamarpa macht bis heute die üblichen politischen Spiele nicht mit und vertraut wie Karmapa und Lopön Tsechu auch hundertprozentig auf Hannah und mich. Wenn weniger erfolgreiche Lamas über uns klagten, hielten diese beiden ihr Band zu uns, was andere kaum schaffen. Sehr erfrischend sind Shamarpas Warnungen an uns Westler vor dem blinden Glauben an Titel und Würdenträger. Wir müssten selbst jeden Lehrer untersuchen und selbständig werden, lautet sein Rat heute mehr denn je.
Künzig Shamar Rinpoche
In Kopenhagen lernten die Leute aus dem Zentrum, die Presse besser einzuschätzen. Ein miesmachendes Intellektuellenblatt hatte ein Interview abgedruckt, das Dutzende verärgerter Kommunisten und Homosexueller zu Künzig Shamarpas Vortrag brachte. Es soll ein einmaliges Erlebnis für ihn gewesen sein. Seine weitere Fahrt durch Europa, zusammen mit Hannah, verlief sehr gut.
Im Jahre 1981 schrieb uns Karmapa öfter als jemals zuvor. Alle anderen Neuigkeiten aus dem Osten machten nur wenig Sinn. Mitunter hörten wir, dass er ganz krank sei, dass nur sein Wille, anderen zu nützen, ihn
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