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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Plüschtieren und Lego gespielt, woraus sie ihren Status als frühe Feministin ableitete. Später hatte sie ihre Freunde schlecht behandelt, und es war ein Wunder, dass es der momentane Partner schon seit vier Jahren mit ihr aushielt. Lydia war zwar die Zweitjüngste in der Familie, aber kein armes Sandwichkind, das zu wenig beachtet wurde. Als dominante Persönlichkeit sorgte sie unentwegt dafür, dass ihre Ansprüche durchgesetzt wurden. Ellen konnte nur durch dramatische Szenen, temperamentvolle Tiraden und Wutanfälle dagegen ankämpfen, hatte aber trotzdem das Gefühl, immer wieder das Nachsehen zu haben.
    Alle hatten es zu Wohlstand gebracht. Als Wirtschaftsprüfer verdiente Matthias ausgezeichnet; Holger, der German Lied an der Royal Academy of Music in Glasgow unterrichtete, konnte zwar kaum davon leben, hatte aber eine reiche Frau geheiratet. Bei Christa verhielt es sich ähnlich – sie hatte ein wenig Psychologie studiert, aber schon bald einen erfolgreichen, stockkonservativen Unternehmer an Land gezogen; Lydia arbeitete zwar gelegentlich als Immobilienmaklerin, hatte das Geldverdienen aber nicht nötig, denn sie war durch zwei wohlhabende Exmänner finanziell gut abgesichert. Ellen hatte großes Mitleid mit sich selbst, weil es ihre Geschwister so viel besser getroffen hatten.
    Schon am nächsten Abend rief Matthias wieder an. Er halte es für das Beste, wenn er am kommenden Wochenende mal vorbeischaue, er wolle mit seiner Frau sowieso eine Wanderung machen und könne doch bei dieser Gelegenheit Mutter und Schwester besuchen. Dann werde man in Ruhe alles bereden.
    »Kuchen bringen wir mit«, sagte er. »Du brauchst dich um nichts zu kümmern, und wir bleiben bestimmt nicht lange. Ich freue mich auf ein Wiedersehen!«
    Ellen konnte nicht gut nein sagen, zumal ihre Mutter immer ganz aus dem Häuschen geriet, wenn sie ihren Liebling – den wohlgeratenen, tüchtigen, herzensguten Matthias – umarmen konnte. Obwohl man ja räumlich nicht allzu weit auseinander wohnte, beschränkten sich die Besuche auf höchstens einen pro Jahr. Sie konnte es sich nicht verkneifen: »Na, da wird sich Mama ja überschlagen, wenn der Kronprinz kommt!«
    Matthias lachte, schien aber ein wenig geschmeichelt.
    Obwohl sie als Kind sehr eifersüchtig auf den großen Bruder war, mochte Ellen ihn heute am liebsten. Matthias hatte seine Geschwister stets beschützt und verteidigt, besonders als sie noch klein waren. In der Grundschule hatten sie alle ihre Spitznamen weg: Christa hieß das schebbe Maul, Holger der Dabbes, Matthias der Dokder, Lydia die Krott und Ellen die Klaa. Alle miteinander hießen sie die Tunkel-Baggasch. Zu Zeiten ihrer Vorfahren war da noch mehr Hochachtung gewesen, in der Textilfabrik des Großvaters arbeiteten zeitweise fünfzig Leute, man ehrte und schätzte die Familie – so lange, bis Rudolf Tunkel den Betrieb übernahm, modernisierte, Fachkräfte entließ, schließlich den ganzen Laden verkaufte und zu allem Überfluss auch noch starb. Von da an ging es bergab, die Villa wurde zum Nonnenhaus, über die Familie wurde gespöttelt. Nur Matthias verstand es, sich mit wenigen Worten Respekt zu verschaffen. Er wäre ein würdiger Nachfolger des Fabrikvorstands gewesen, da war man sich einig.
    Wie Ellen erwartet hatte, blühte ihre Mutter auf, als sie vom baldigen Besuch ihres ältesten Sohnes hörte, und begann sofort, Familiensilber und Fenster zu putzen.
    »Kommt Brigitte auch mit?«, fragte Hildegard hoffnungsvoll, denn die Frau ihres Ältesten war allgemein beliebt. Hildegard war keine böse Schwiegermutter und mochte fast alle angeheirateten Familienmitglieder, ausgenommen waren nur Ellens Ex und mehrere abgelegte Männer von Lydia. – Wohin denn die Wanderung gehe? – Das wusste Ellen nicht, ebenso ob es überhaupt so gedacht war, dass alle gemeinsam spazieren gingen.
    »Wir könnten doch die Burg Windeck in Weinheim besuchen, da gibt es einen schönen Randweg an den Schrebergärten entlang. Außerdem möchte ich endlich einmal wieder in den Wald«, sagte Hildegard leicht anklagend. »Niemand denkt daran, dass ich seit Jahren nicht aus dem Garten herauskomme.«
    »Wie ich Matthias und Brigitte kenne, wollen sie keinen gemütlichen Bummel machen, sondern stundenlang über Stock und Stein marschieren. Ob das noch das Richtige für dich ist?«
    »Ich habe eine bessere Kondition als ihr alle zusammen«, behauptete Hildegard. »Wer ist denn zwölf Stunden am Tag auf den Beinen? Ich bin körperliche Arbeit

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