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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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streckte ihr die Teller hin. Ellens Stück landete kurz vorm Ziel auf der Tischdecke – beinahe sah es wie Absicht aus.
    »Hat er auch Kinder?«, fragte Ellen und kratzte Sahne von der Decke.
    »Ja, da gibt es auch wieder eine Parallele«, sagte Matthias. »Genau wie wir haben sie zuerst einen Sohn, dann eine Tochter bekommen.«
    Er erschrak über seine eigenen Worte, denn seine Tochter Nina war seit der Affäre mit ihrem Onkel Adam tabu – oder doch nicht? Immerhin war Hildegard nach wie vor ihre Großmutter. Tatsächlich fragte Hildegard auf einmal: »Besteht eine gewisse Chance, dass ich demnächst Urgroßmutter werde?«
    »Eine Chance bestimmt, aber noch ist Nina mit ihrer Karriere beschäftigt und scheint der Meinung zu sein, sie habe noch viel Zeit mit dem Kinderkriegen. Außerdem ist ihr Freund nicht mit dem Studium fertig. Brigitte und ich werden leider alte Großeltern werden – wenn überhaupt.«
    Ellen wollte »ich auch« sagen, verkniff es sich aber. Amalia beobachtete, dass ihre Mutter nervös war und völlig sinnlos die Tischdecke immer wieder glattstrich. Schließlich fragte Hildegard ihren Sohn etwas verlegen: »Wie sieht er eigentlich aus, dieser Gerd?«
    »Na, ein bisschen wie ich oder wie Prince Charles.«
    Vor dem Aufbruch legte man den Termin für das Familientreffen endgültig auf das übernächste Wochenende fest.
    »Wir werden am späten Vormittag eintrudeln«, bestimmte Matthias. »Zum Mittagessen lade ich alle in die Fuchs’sche Mühle ein. Vielleicht ist Ellen so lieb und lässt einen Tisch reservieren? Ich denke, unser Treffen sollte ganz zwanglos und heiter über die Bühne gehen; auf keinen Fall soll Mutter denken, dass sie für uns kochen muss!«
    Jahrelang habe sie für eine große Familie gekocht, meinte Hildegard, das sei überhaupt kein Problem. Matthias und Ellen blickten sich an und lächelten.
    Um sechs Uhr fuhren die Gäste wieder nach Hause. Etwas ermattet fragte Ellen ihre Tochter: »Und – wie war’s mit Onkel und Tante?«
    »Der Matthias ist schon in Ordnung, der Kuchen war auch okay«, sagte Amalia, »aber dieses geplante Familientreffen finde ich ziemlich strange. Na ja, wie gesagt: ohne mich!«
    Ellen schwieg und räumte den Tisch ab, Amalia rief ihren Uwe an und ließ sich abholen. Hildegard stellte den Besucherstrauß in eine andere Vase, spülte Tassen und weinte.
    »Mütterchen, was ist denn los?«, fragte Ellen.
    »Ich weiß auch nicht«, sagte ihre Mutter. »Ich hab’ so eine schreckliche Ahnung, dass alles schiefgeht. Aber hör lieber nicht auf eine dumme, alte Frau! – Matthias sah gut aus, findest du nicht? Wie ein junger Gott!«
    Ellen grinste, denn ihr Bruder würde in wenigen Jahren in Rente gehen und wirkte keinen Tag jünger. Der Vergleich mit Prince Charles war nur ein Scherz gewesen – bis auf die Gesichtsform konnte Ellen keine Ähnlichkeit feststellen. Sie suchte das Familienalbum aus dem Regal heraus, wünschte ihrer Mutter eine gute Nacht und verzog sich in die eigenen Gemächer.
    Als Überraschung für das Fest wollte Ellen für alle Geschwister Kopien der wichtigsten Fotos machen lassen. Lange betrachtete sie das große Schwarzweißfoto, auf dem die Eltern und ihre vier Geschwister abgebildet waren. Christa verzog schon damals ihr Mäulchen zu einem schrägen Flunsch, weswegen man sie in der Grundschule schepp Maul nannte. Lydia war ein Baby, sie selbst noch nicht geboren. In dieser Zeit musste ihr Vater fremdgegangen sein und ein weiteres Kind mit einer anderen Frau gezeugt haben. Hildegard kam natürlich dahinter, es gab Streit. Damals besaß der Vater genügend Geld, um die Angelegenheit wenigstens finanziell zu regeln. Ellen forschte in den Zügen ihres Papas, ob man Zeichen seines Draufgängertums erkennen könne. Doch auf diesem Bild sah er genauso solide und treuherzig wie sein Sohn Matthias aus. Auch ihre Mutter wirkte so harmlos, als könne sie kein Wässerlein trüben, und doch wussten ihre Kinder, dass sie gelegentlich laut und jähzornig wurde. Jeder ihrer fünf Sprösslinge hatte sich schon einmal eine Ohrfeige eingefangen, doch man trug es ihr nicht lange nach. Es waren keine Züchtigungen aus kaltem pädagogischem Kalkül, sondern Affekthandlungen. Hinterher tat es Hildegard meistens leid, Jahre später entschuldigte sie es durch ihre ständige Überforderung. Fünf Kinder in relativ kurzer Zeit zu gebären und aufzuziehen, war keine leichte Übung, kein Wunder, wenn man gelegentlich ausflippte. Ob Ellen ein Kind des

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