Über Bord
Abstand zu ihrer Mutter und Brigitte.
»Was ist das wieder für ein Schmarren, dass Amalia mit Gerd nicht verwandt sein soll?«, flüsterte Ellen, der die mysteriöse Angelegenheit keine Ruhe gelassen hatte.
»Wahrscheinlich handelt es sich tatsächlich um eine Fehldiagnose«, sagte Matthias. »Der Laborarzt meint, wir sollten zur Sicherheit auch deine DNA mit der von Gerd abgleichen. Hast du mit Mutter und Amalia schon mal darüber gesprochen?«
»Warum soll ich die Pferde scheu machen, wenn doch alles nur Humbug ist«, sagte Ellen unwirsch. »Außerdem ist es mir völlig gleichgültig, ob Amalia und Gerd gemeinsame Gene haben. Falls du dir aber einbildest, du könntest mich auch in ein Labor lotsen, dann irrst du dich ganz gewaltig.«
»Das brauchst du auch nicht. Es kann relativ schnell geklärt werden, wenn ich meinem Freund einen Abstrich deiner Mundschleimhaut liefere. Sterile Wattestäbchen habe ich im Kofferraum.«
So kam es, dass Hildegard und Brigitte bereits im Garten des Wirtshauses saßen, während Matthias auf dem Parkplatz eine Testbox heraussuchte und schließlich in der Mundhöhle seiner Schwester herumstocherte. Eigentlich war das der wahre Grund seines Kommens. Nur aus Höflichkeit hatte er ihn als Besuch bei seiner Mutter getarnt.
»Wie ich sehe, ist es dir beim Autofahren gar nicht übel geworden«, sagte Ellen und setzte sich neben Hildegard auf einen leicht verbogenen Plastikstuhl. Sie hatte immer noch die vage Hoffnung, das Treffen nach Frankfurt verlegen zu können.
»Wenn Matthias fährt, ist mir noch nie schlecht geworden«, sagte Hildegard. Ein ungerechter Seitenhieb auf ihre Tochter, die stets treu und brav mit ihr zum Einkaufen fuhr.
Nach einer Weile meinte Brigitte: »Wir sollten bald aufbrechen, es gibt ein Gewitter.« Besorgt wies sie auf eine große dunkle Wolkenfront. »Eine Tasse Kaffee trinken wir doch noch bei euch? Wir haben Bienenstich und Frankfurter Kranz mitgebracht.«
Kaum saßen sie wieder im Wagen, begann es kurz und heftig zu hageln. Amalia wird doch bei diesem Unwetter nicht im See herumschwimmen, dachte Ellen, aber ihr Kind stand schon an der Haustür, hatte keinen Tropfen abgekriegt und bereits Kaffeewasser aufgesetzt. Matthias musterte seine Nichte und sagte charmant: »Mädchen, du wirst ja immer hübscher!«
Schließlich deckte Hildegard den Tisch mit einem übergroßen, vergilbten Tafeltuch aus Reinleinen, das noch aus Justus Willibald Tunkels Fabrik stammte. Sie wolle es sowieso waschen, erklärte sie, weil es für das geplante Familientreffen die richtigen Maße habe. Doch lohne es sich erst, wenn es vorher noch einmal schmutzig würde. Ein komplizierter Gedankengang, den aber alle Frauen verstanden. Außerdem war man hiermit beim Thema angelangt.
»Es werden gar nicht so viele kommen«, beruhigte Matthias seine Mutter. »Lydia will sich nicht mit ihrem Partner blamieren, und Holger meint, Maureen fühle sich nicht wohl, wenn alle deutsch sprächen und noch unbehaglicher, wenn alle meinten, englisch sprechen zu müssen.«
Hildegard begann zu zählen: Sie selbst, Ellen und Amalia, Matthias und Brigitte, Holger, Christa und Arno, Lydia und schließlich der Neue, dieser Gerd – sie kam auf zehn Personen und entspannte sich ein wenig.
»Elf«, sagte Matthias, »Gerd hat schließlich eine Frau.«
»Zum Glück nicht zwölf. Wenn nämlich ein Überraschungsgast auftauchen sollte, sind wir dreizehn Leute bei Tisch, und ich bin abergläubisch«, bemerkte Brigitte.
Angesichts dieser Schreckensvorstellung beschloss Amalia, gar nicht erst über eine mögliche Anwesenheit ihres Liebsten zu debattieren. Ihre Schwester, die Cousins und Cousinen waren offensichtlich nicht eingeplant, eigentlich war auch ihre Anwesenheit nur geduldet und nicht erwünscht. »Mit mir braucht ihr nicht zu rechnen«, sagte sie, und vier Augenpaare starrten sie verwundert an, doch keiner sagte ein Wort. Wohl um die Situation zu entschärfen, wandte sich Ellen an Matthias: »Hast du Gerds Frau eigentlich kennengelernt?«
»Ganz kurz nur, sie heißt Ortrud und war sehr elegant angezogen, aber sie kam ja auch von einem gesellschaftlichen Anlass zurück. Übrigens war die ganze Wohnung originell, unprätentiös und intelligent eingerichtet, unser Halbbruder ist nämlich Architekt und seine Frau Innenarchitektin.«
»Das Interesse für Architektur habe ich also von meinem neuen Onkel geerbt«, murmelte Amalia, aber niemand hörte hin, denn Hildegard teilte den Kuchen aus, und man
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