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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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gewohnt, meine fünf Kinder hocken doch alle nur vor ihren Bildschirmen und bewegen sich bloß, um mal aufs Klo zu gehen.«
    Nachdenklich betrachtete Ellen ihre Mutter: winzig klein, ein krummer Rücken, runzelige Lederhaut, braune Altersflecken auf den Handoberflächen, abgebrochene Nägel und inmitten des Verfalls der leuchtend grüne Jadering am Mittelfinger. Schon lange hatte der Augenarzt eine Staroperation für nötig erachtet.
    »Was guckst du so kritisch?«, fragte Hildegard. »Ich war auch mal jung und hübsch und keine Hutzel wie heute.«
    Und wahrscheinlich auch nicht so männerfeindlich, moralinsauer und streng, dachte Ellen. Wie schon ein alter Spruch sagte: Als David kam ins Alter, da sang er fromme Psalter.

7

    Amalia passte es zwar nicht, am Wochenende einen auf Familie zu machen, aber sie erklärte sich immerhin dazu bereit, Onkel und Tante zu begrüßen. Sie hatte sich ein preiswertes neues Sommerkleid gekauft, eigentlich nur ein verlängertes T-Shirt, das ihr aber mit seiner himmelblauen Farbe und kombiniert mit einem grün gepunkteten Schal gut zu Gesicht stand. Onkel Matthias und Tante Brigitte waren stets sportlich-lässig, aber teuer gekleidet: nobles Understatement, mit dem sie nicht mithalten konnte. Durch bunte Farben hob sie sich davon ab. Irgendwie wollte sie den städtischen Verwandten schon gefallen.
    Leider hatten weder ihre Mutter noch die Oma ein Wort darüber verloren, dass auch Uwe willkommen sei. Amalia hatte sich mehr oder weniger damit abgefunden, dass er in diesem Haus als Persona non grata galt.
    Seit langem sammelte sie Reliquien aus der Natur. In einer Glasvitrine, die sie ihrer Oma abgeschwatzt hatte, lagen gefällig angeordnete Schneckenhäuser unterschiedlicher Färbung, Steine aller Art, alraunengleiche Wurzelstücke regionaler Weinstöcke, skelettierte Magnolien- und gepresste Ginkoblätter, verschrumpelte und fast erdfarbene Feigen aus dem Garten, eine riesengroße neben einer winzigen Nuss, vertrocknete Samenstände der Jungfer im Grünen, ein Amselnest mit einem aufgegebenen Gelege und ein mumifizierter Nashornkäfer. Amalia duldete nur Naturfarben in Mausgrau, Rinden-, Eierschalen- und Sandtönen. Ihrer Mutter war dieser Schrein ein Dorn im Auge, und sie betrat nur ungern das Zimmer ihrer Tochter. Inzwischen war die Sammlung noch um ein mickriges getrocknetes Chamäleon bereichert worden, das ihre Freundin Katja auf einem tunesischen Wochenmarkt erhandelt hatte. Ihre ältere Schwester Clärchen war begeistert, nature morte in Reinkultur sagte sie, fotografierte das Stillleben von allen Seiten und wollte davon Kunstpostkarten herstellen.
    Uwe hatte zwar keine Probleme mit der Morbidität der Gegenstände, aber er verstand das Prinzip nicht wirklich. Gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft überreichte er ihr feierlich das Glasauge seines verstorbenen Großvaters. Er hatte nicht begriffen, dass ein neuzeitliches Artefakt überhaupt nicht in eine Naturalienkollektion passte, so dass Amalia seine Gabe in einem Zahnputzglas auf der Waschkonsole im Badezimmer ablegte. An diesem Abend gellten die Schreie ihrer Mutter durch das ganze Haus, und Uwe hatte es mit Ellen verdorben. Und dennoch: In Gesprächen mit der Oma ergriff Ellen immer die Partei ihres Kindes und verteidigte den langen Uwe.
    Gegen elf wurden die Gäste aus Frankfurt erwartet, man plante gemeinsam spazieren zu gehen, irgendwo in einem Landgasthaus einen Imbiss einzunehmen und schließlich zu Hause den mitgebrachten Kuchen zu essen. Es war ein heißer Tag, Amalia wollte mit Uwe schon früh zum Baggersee aufbrechen und nur zum Kaffeetrinken zurück sein. Hildegard hatte sich in Erwartung ihres Sohnes so schön wie möglich gemacht, kokettierte mit einem Strohhut und trug eine mit Blumen bestickte Trachtenbluse aus der Hinterlassenschaft ihrer donauschwäbischen Jugendfreundin.
    Matthias fuhr einen großen Wagen und sehr schnell, weswegen er meistens zu spät startete. Auch diesmal wurde es zwölf, und Hildegard regte sich bereits auf.
    »Du kennst ihn doch«, tröstete Ellen. »Brigitte würde anrufen, wenn irgendetwas passiert wäre.«
    Als schließlich Hildegard und Ellen zu Matthias ins Auto stiegen, wollte man keine weiten Strecken mehr fahren und landete schon bald in einem Wirtshaus, wo man unter Bäumen saß und Weinschorle bestellte. Bis der gerühmte hiesige Kochkäse auf den Tisch kam, wollten alle noch ein paar Schritte zu einem nahe gelegenen Forellenteich gehen.
    Matthias und Ellen hielten etwas

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