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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Waffenstillstands oder der endgültigen Versöhnung war? Oder doch eher eine Panne und kein Wunschkind? So etwas konnte man seine Eltern kaum fragen. Auch würden sie schwerlich mit der Wahrheit herausrücken.
    Überdies waren die Affären ihres Vaters und ihres Exmannes nun wirklich nichts Besonderes; wo man hinsah, gab es ähnliche Geschichten, nur nicht immer mit den gleichen Konsequenzen. Sie hatte eine ehemalige Schulfreundin, die so lange auf die offene Ehe schwor, bis sich ihre eigenen Chancen drastisch verringerten, ihr Mann das Recht auf Seitensprünge jedoch weiterhin einforderte. Sie kannte auch Frauen, die stets Gleiches mit Gleichem vergalten oder ahnungslose Männer mit untreuen Gattinnen. Es war wohl gar nicht möglich, dass Paare ein Leben lang glücklich miteinander waren, die eigenen Eltern inbegriffen.
    Vielleicht, dachte Ellen, hätte auch sie etwas mehr Geduld mit Adam haben sollen, anstatt bis heute unversöhnlich und aufs tiefste verletzt an die Jahre ihrer Ehe zurückzudenken. Ihre Mutter hatte das besser hingekriegt, sie hatte ihrem Rudolf längst vergeben, bevor er starb. Sowohl Clärchen als auch Amalia hatten sporadischen Kontakt mit ihrem Vater, aber sie sprachen nicht darüber. Ellen wusste, dass ihre Töchter ihrem Vater E-Mails schrieben und er sie an den Geburtstagen stets anrief.
    Ellen litt sehr unter der Vorstellung, allein alt werden zu müssen. Hildegard würde sterben, die Töchter eigene Familien gründen. Und was wurde aus ihr? Sie war nicht dafür geschaffen, in diesem großen Haus ohne einen Partner zu versauern.

8

    Natürlich freute sich Hildegard, demnächst alle fünf Kinder unter ihrem Dach versammelt zu haben, fast die gesamte Großfamilie. Nur ihr verstorbener Mann Rudolf konnte nicht mehr teilnehmen, aber sozusagen stellvertretend dessen Sohn. Sie war neugierig auf Gerd Dornfeld. Angeblich sollte er sowohl Matthias als auch seinem genetischen Vater gleichen, war also ein stattliches Mannsbild geworden.
    Ein bisschen war ihr allerdings auch bange vor diesem Treffen. Unter ihren Kindern hatte es oft Streitereien und Rivalitäten gegeben, sie hoffte sehr, dass sie inzwischen vernünftig und erwachsen genug waren, um eingebildete Ungerechtigkeiten und aufgebauschte Lappalien nicht vor einem Fremden auszubreiten. In Gedanken knöpfte sie sich ihre Sprösslinge der Reihe nach vor.
    Ihr Stolz war immer der älteste Sohn gewesen. Matthias stand seit seiner Geburt auf der Sonnenseite, hatte in allen Lebensbereichen Erfolg und war überaus beliebt. Auch an seiner Frau und seinen Kindern konnte man nichts aussetzen – bis auf den einen wunden Punkt, die Geschichte mit Nina. Völlig naiv und unschuldig war ihre Enkelin keineswegs gewesen, zu einem solchen Spiel gehören ja immer zwei.
    Christa war wie Matthias ein Wunschkind. Ebenfalls eine gute Schülerin, hatte sie zudem eine ausgeprägte soziale Ader, gab hyperaktiven Kindern Nachhilfeunterricht und kümmerte sich liebevoll um die wilden kleinen Schwestern. Warum nur hatte sie ihr Studium abgebrochen? Durch ihre Heirat mit Arno war sie zwar gut versorgt, aber auch ein wenig langweilig geworden.
    Holger war das Sorgenkind. Zu früh und mit einer mittelschweren Sehbehinderung auf die Welt gekommen, noch mit 16 nicht größer als die jüngeren Schwestern. Trotz hoher Intelligenz ein Schulversager. Das Abitur hatte er zum Glück geschafft und auch eine Ausbildung zum Gesangspädagogen. Der kleinwüchsige Holger, der in der Grundschule den Spitznamen der Dabbes erhielt, weil er noch nicht einmal eine Schleife binden, geschweige denn einen Nagel einschlagen konnte, erregte schnell Mitleid und Interesse bei den Frauen. Es war erstaunlich, wie viele weibliche Fans sich in seinen jungen Jahren um ihn scharten und dabei entdeckten, dass er hinreißend singen konnte. Obwohl er eine dicke Brille trug und vorzeitig eine Glatze bekam, konnte er doch wie Schubert oder gar Orpheus die Menschen und sicherlich auch die wilden Tiere verzaubern. In Maureen hatte er eine Partnerin gefunden, die ihn bewunderte und aufrichtig liebte, ihn auf dem Klavier begleitete und ihn selten spüren ließ, dass sie eine reiche Partie war.
    Als viertes Kind kam Lydia mit ihren nicht enden wollenden Trotzattacken und Wutanfällen. Hier im Ort nannte man sie nur die Krott – die Kröte. Lydia ließ sich von keinem die Butter vom Brot nehmen. Wenn sie in späteren Jahren unzufrieden wurde, wechselte sie ihre Haarfarbe und ihre Partner ohne viel Federlesen; ihre

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