Über Bord
ersten Männer waren stets wesentlich älter gewesen, der jetzige deutlich jünger. Doch alles in allem war Lydia eine durchsetzungsfähige Frau.
Zwei Jungen, zwei Mädchen – damit war die Familie eigentlich komplett. Nie wollte Hildegard ihre Jüngste spüren lassen, dass sie nicht einkalkuliert war; Kinder wurden früher sowieso nicht so exakt geplant wie heutzutage. Glücklicherweise war Ellen, ihr Küken und heimlicher Liebling, mit ihren Töchtern wieder ins elterliche Nest zurückgekehrt. Zwar war die eine Enkelin bereits ausgeflogen, die andere könnte bald folgen, aber Ellen wollte sicherlich bleiben. Sie sollte ja das Haus erben und würde wohl aus Dankbarkeit später einmal ihre Mutter pflegen. Auch die kleine Ellen konnte jähzornig werden und hatte sich als Kind häufig mit Lydia angelegt, ja sogar geprügelt. Seltsam, dachte Hildegard, unter meinen Buben gab es kaum Auseinandersetzungen, die waren offensichtlich friedlicher als die beiden kleinen Mädchen. Doch wahrscheinlich fand es Matthias unter seiner Würde, den jüngeren Holger zu verdreschen.
Hildegard überlegte lange, wie sie die Kaffeetafel schmücken wollte. Natürlich mussten Blumen aus dem eigenen Garten her, die sie nur für besondere Gelegenheiten pflückte. Diesmal sollten die schönsten daran glauben, ihr schwebte anfangs ein Strauß wie aus einem barocken Stillleben vor. Matthias hatte allerdings geäußert, der Familientag solle unverkrampft und heiter über die Bühne gehen. Deshalb durfte der Blumenschmuck vielleicht doch nicht so künstlich wie ein Gemälde wirken, ein duftiger Strauß aus rosa, weißen und roten Cosmeen oder Löwenmäulchen, wie zufällig zusammengestellt, war wohl besser geeignet.
Wenn sie schon nicht das Mittagessen kochen durfte, wollte Hildegard wenigstens einen Kuchen backen. Auch in diesem Fall sollte es besser keine bombastische Torte, sondern ein Hefekuchen vom Blech sein, der die Kinder an unbeschwerte Zeiten im Elternhaus erinnerte: mit Streuseln, Pflaumen oder Äpfeln belegt und mit steifgeschlagener Sahne serviert. Holger mochte allerdings am liebsten Schokoladenkuchen, Lydia Rüblitorte. Nun, man konnte es nicht allen recht machen, wer weiß das besser als eine Mutter von fünf Kindern.
Sie schlief schlecht in diesen Tagen und träumte absurdes Zeug, an das sie sich am nächsten Morgen nicht erinnern konnte. Einmal blieb immerhin ein surreales Bild in ihrem Gedächtnis haften: Alle vier Geschwister fielen über die kleinste Schwester her, die wie eine verlorene Lumpenpuppe auf dem Kiesweg lag. Sie rissen sie an den Haaren und versuchten, sie wie einen schlecht gestrickten Pullover aufzutrennen. Ob es ungerecht war, dass Ellen das elterliche Haus erbte?, fragte sie sich. Ob die Villa mehr wert war als die Summe, die jedes der vier anderen Kinder erhalten hatte?
Ellen hatte ganz andere Dinge im Kopf. Ihre Schwestern und Schwägerinnen waren alle erheblich besser angezogen als sie. Christa kompensierte ihr ein wenig schiefes Gesicht und eine allzu üppige Figur durch teure, sehr gepflegte Garderobe, die meistens von einer Schneiderin angefertigt wurde. Das pure Gegenteil war Lydia, die gern provozierte. Sie hatte einen durchaus eigenwilligen Stil, kombinierte Altes mit Neuem, erschien mal ganz in Schwarz mit einem Zylinder wie ein Schornsteinfeger, dann wieder als Papageno in schrillen Farben und mit einer Federboa. Lydia war stets für eine Überraschung gut, Ellen hatte sie noch nie im gleichen Outfit erlebt. Brigitte, die Frau von Matthias, war sportlich und edel angezogen. Von Ortrud – der Gattin des neuen Bruders – hatte sie bisher nur gehört, dass sie sehr damenhaft gekleidet war. Wie schäbig würden sich die Bewohnerinnen des Nonnenhauses mit ihren abgetragenen, billigen Kaufhausfähnchen dagegen ausnehmen! Was ihre Brüder anging, machte sich Ellen keine Gedanken. Erbarmungslos taxiert wurde man im Allgemeinen nur von anderen Frauen. Nach vielem Hin und Her überzog Ellen hemmungslos ihr Konto und ging einkaufen. Das Resultat waren violette Highheels und ein dazu passendes Hemdblusenkleid aus reiner Seide, außerdem ein sehr teures Parfüm. Für den Fall, dass nach dem Essen ein Spaziergang im Mühlental angesagt sein sollte, musste sie allerdings auch ihre Sneakers mitnehmen.
Amalia hatte zwar auf Wunsch der Großmutter ihr Zimmer aufgeräumt und sogar geputzt, aber endgültig beschlossen, am bewussten Wochenende ihre Schwester in Köln zu besuchen, und zwar mit Uwe im
Weitere Kostenlose Bücher