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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Schlepptau.
    Zwei Wochen später war das Wetter am Samstag zwar nicht mehr ganz so strahlend wie in den vergangenen Wochen, aber schön genug, um sich vor der Fuchs’schen Mühle im Freien zu begrüßen, nach dem Essen spazieren zu gehen und den Nachmittagskaffee in Hildegards Garten einzunehmen. Erstaunlicherweise trafen die Gäste fast gleichzeitig in drei Autos ein. Matthias, Brigitte und Lydia hatten Holger am Flughafen abgeholt. Christa und Arno, Gerd und Ortrud kamen in getrennten Wagen. Es gab ein großes Hallo, Küsse und Rückenklopfen sowie von allen Seiten neugierige Blicke auf den fremden Bruder und dessen Frau. Nach einem Glas Sekt und einer kurzen Rede von Matthias duzte man sich mit Gerd – bis auf die unschlüssige Hildegard. Bis dahin ließ sich alles gut an, das Essen im Restaurant schmeckte vorzüglich, die allgemeine Aufregung verflog, es wurde viel gelacht, und die gute Laune der Großfamilie ließ nichts zu wünschen übrig. Als man endlich zum Spaziergang am Rande der träge fließenden Weschnitz aufbrach, ließ es sich Holger nicht nehmen, ein Lied aus der schönen Müllerin zum Besten zu geben: Ich hört’ ein Bächlein rauschen…
    »Ganz ohne Klavierbegleitung habe ich das noch nie gesungen«, sagte er stolz, und jetzt merkten die drei Schwestern erst, dass auch Holger ein wenig berauscht war. Wie ein kleiner Dackel wieselte er zwischen Gerd und Arno an der Spitze der Gruppe hin und her.
    »So aufgedreht habe ich unsern Holger noch nie erlebt«, flüsterte Christa den neben ihr hergehenden Schwestern zu. »Aber er braucht ja heute zum Glück nicht Auto zu fahren.«
    »Wie findet ihr diese Ortrud?«, fragte Ellen leise. »Dreht euch bitte jetzt nicht beide um, sie ist noch hinter Mama und Brigitte. Anscheinend hat sie sich unseren Matthias gekrallt.«
    »Die säuft«, sagte Lydia, »das habe ich sofort gerochen. Ich mag sie nicht, die ist irgendwie falsch, unser netter neuer Bruder verdient etwas Besseres.«
    »Wie kannst du gleich so etwas sagen«, zischte Christa. »Wir kennen sie noch gar nicht!«
    Doch Ellen fand auch, dass Gerds Frau keine Sympathieträgerin war, wusste jedoch keine plausible Begründung. Immerhin hielt sie Ortruds Spazierstöckchen für ziemlich affig.
    »Der Knauf ist ein Gänsekopf aus Elfenbein«, stellte sie fest.
    »Vielleicht ist sie gehbehindert«, sagte Christa.
    »Und wenn schon! Der ist doch alles in den Schoß gefallen«, sagte Lydia, »bestimmt nur dank Vitamin B. Wenn Gerd fette Bauaufträge an Land zieht, kann er seine Ortrud doch mühelos für die Inneneinrichtung ins Spiel bringen.«
    Amalia wäre auch gern Innenarchitektin geworden, dachte Ellen, schade, dass sie nicht hier ist und ihre neue Tante ein wenig ausfragen kann. Außerdem hatte sie bemerkt, dass sich Hildegard bei ihrer Schwiegertochter Brigitte eingehakt hatte, was sie bei den eigenen Töchtern noch nie getan hatte.
    »Früher brachte ich vom Spazierengehen immer einen Wiesenstrauß mit nach Hause«, klagte Christa. »Holger sollte mal singen: Sag mir, wo die Blumen sind! «
    »Hier ist doch alles voller Hahnenfuß«, meinte Lydia. »Wahrscheinlich bist du zu anspruchsvoll.«
    Auch Ellen ließ den Blick schweifen. Amalia hätte bestimmt viele winzige Blümchen entdeckt und ihre Namen gewusst sowie runde Steine und Federn für ihre Sammlung aufgelesen. Und vielleicht hätte sie sogar beim anschließenden Tischdecken im Garten geholfen. Später sollte Ellen allerdings froh sein, dass ihre beiden Töchter in Köln weilten.
    Matthias und seine neue Schwägerin blieben immer weiter hinter den anderen zurück. Sie habe sich erst kürzlich ein neues Hüftgelenk einbauen lassen, gestand Ortrud, deswegen falle ihr das Laufen noch etwas schwer.
    »Gerd muss sich immer an die Spitze setzen«, sagte sie. »Er fühlt sich als Leitwolf.«
    »Ich eigentlich auch«, sagte Matthias, »aber in deiner Gesellschaft zügele ich meine wölfischen Triebe. Mein Schwager Arno – das ist der Mann unserer Schwester Christa – macht übrigens auch gern den Wanderführer. Holger ist da ganz anders, mich wundert es sowieso, dass er nicht der Letzte ist. Anscheinend hat er etwas zu viel Wein intus. Das ist er nicht gewohnt, seine Frau Maureen ist Antialkoholikerin. Nun wird er wohl übermütig! Wetten, dass wir noch weitere Beispiele seiner Sangeskunst zu hören bekommen.«
    »Ich bin gespannt«, sagte Ortrud.
    Nach etwa einer Stunde setzte man sich in Hildegards schönem Garten an die große Kaffeetafel, die mit

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