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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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dem frisch gewaschenen Tischtuch aus der ehemaligen Leinenfabrik gedeckt war. Christa und Brigitte verteilten unermüdlich Geschirr, Bestecke, Streusel- und Pflaumenkuchen, geschlagene Sahne und Papierservietten, bis alle versorgt waren. Ellen kochte in der Küche Tee für jene Gäste, die keinen Kaffee wollten, als plötzlich Gerd vor ihr stand.
    »Die Toilette ist vom Flur aus rechts«, sagte sie. Er blieb jedoch stehen.
    »Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich dich damals so überfallen habe«, sagte er.
    Sie sahen sich zwei Sekunden lang an, und Ellen spürte plötzlich eine Erschütterung wie von einem nahenden Erdbeben und vergoss vor Schreck etwas kochendes Wasser auf ihre neuen Schuhe.

9

    »Sollten wir uns nicht lieber ins Haus setzen? Hier wimmelt es nur so von Wespen«, sagte Holger und wedelte mit der Serviette hysterisch über den Zwetschgenkuchen.
    »Bist du allergisch gegen Insektenstiche?«, fragte Christa besorgt.
    »Weiß ich nicht, aber es könnte ja sein«, sagte Holger.
    »Immer noch der alte Hypochonder«, meinte Matthias. »Mutter hat den Tisch so liebevoll hier draußen hergerichtet. Im Garten erinnert mich alles an die fröhlichen, sommerlichen Sonntage unserer Kindheit.«
    »Mich nicht«, sagte Lydia. »Papa war meistens unterwegs, Mama musste kochen, und wir haben uns gestritten. Einmal hatte Ellen eine Maus unterm Kirschbaum entdeckt und so gebrüllt, dass ich ihr einen Eimer Wasser überschütten musste.«
    »Mein Gott«, seufzte Hildegard. »Mäuse, Spinnen, Wespen – das gehört schließlich zur Natur. Manchmal frage ich mich, warum ihr so zimperlich seid. Von mir habt ihr das nicht.«
    »Könnte ich vielleicht ein bisschen Rum in den Kaffee kriegen?«, fragte Arno und hängte sein Sakko über die Stuhllehne. »Ich erinnere mich, dass es früher einen köstlichen Pharisäer bei euch gab, mit Sahnehäubchen natürlich.«
    Ellen wollte sofort losspurten, wurde aber von Holger am Ärmel festgehalten. Er habe etwas Besseres mitgebracht, behauptete er, verlangte von Matthias den Autoschlüssel und holte seine Reisetasche aus dem Kofferraum. Alle schauten gebannt zu, wie er zwei rosa Hemden, einen ledernen Kulturbeutel und einen Schlafanzug mit aufgesticktem I love you baby auspackte und auf einem Gartenstuhl ablegte. Dabei fielen ihm mehrere Päckchen heraus und landeten auf dem Boden. »Ach so, stimmt ja, Maureen hat mir Geschenke für euch mitgegeben«, sagte er fast verwundert und verteilte Mintspezialitäten, Shortbread und für Hildegard ein mit Blumen bedrucktes Geschirrtuch mit der Inschrift: Wild Flowers of Britain. Zuunterst zog er triumphierend eine Flasche hervor, die er sorgfältig in einen Pullover eingewickelt hatte.
    »Na, da guckt ihr!«, sagte er. »Scotch Single Malt Whisky vom Feinsten!«
    »Den hat dir deine Puritanerin wohl kaum als Reiseproviant zugesteckt«, sagte Lydia, und die Eingeweihten lachten.
    Kaum war die Flasche offen, hielten fast alle ihre Tassen hin, um sich einen ordentlichen Schuss in ihren Kaffee oder Tee gießen zu lassen.
    »Viel zu schade zum Verdünnen«, sagte Holger, kippte den Kaffee auf den Rasen und füllte stattdessen Whisky in seine Tasse. »So etwas Gutes kriege ich zu Hause nie.«
    »Ellen kann dir ein Glas holen«, sagte Hildegard ein wenig spitz.
    »Ach was«, sagte Holger und nahm einen kräftigen Schluck. »Wir sind doch nicht bei der Royal Gardenparty im Buckingham Palace! Apropos Great Britain, wollt ihr mal ein schottisches Lied hören?«
    »Bitte nicht Loch Lomond, dabei muss ich immer weinen«, sagte Lydia. Holger nickte, rutschte vom Stuhl herunter, wovon er allerdings auch nicht viel größer wurde und setzte an: »My love is like a red, red rose.«
    »Robert Burns«, bemerkte Ortrud und streckte ihre leere Tasse in Richtung Whiskyflasche.
    Als der letzte Ton verklungen war, klatschte man mehr oder weniger begeistert, und Lydia rief: »Bravo! Bravissimo! Hoch die Tassen, auf unseren begnadeten Sänger!«
    Gerd Dornfeld meinte jedoch, mit Wein ließe sich besser anstoßen. Er habe eine ganze Kiste mitgebracht. Brigitte half, Gläser zu holen, und endlich trank man feierlich dem glücklichen Sänger zu.
    Matthias rief: »Und natürlich stoßen wir auch auf den schönsten Garten dieser Welt und unsere liebe Mutter an! Hoch soll sie leben! Ohne sie gäbe es uns überhaupt nicht!«
    »Und auf den Gentest!«, brüllte Lydia. »Sonst hätten wir ja keinen neuen Bruder und keinen Anlass zum Feiern!«
    Auch der zurückhaltende Arno taute

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