Über Bord
Spülmaschine war endlich Zeit, unter vier Augen über das brisante Thema, über die Geschwister sowie den neuen Bruder zu reden.
»Holger spinnt«, sagte Lydia. »Er will doch tatsächlich seine Familie verlassen und zurück nach Deutschland ziehen! Dabei dachten wir, er hätte mit seiner ebenso reichen wie ergebenen Maureen das große Los gezogen. Immerhin ahnt sie noch nichts von seinen Plänen, vielleicht war das Ganze nur Geschwätz aus den Abgründen einer Midlifecrisis.«
»Und was hältst du von Gerd?«, fragte Ellen.
»Der ist in Ordnung, außerdem ein attraktiver Mann. Wenn er nicht mein Bruder wäre, könnte ich mich glatt in ihn verlieben. Schade, dass er mit einer Schnapsdrossel verheiratet ist. Diese blöde Ortrud war kurz vor der Abfahrt auf dem Klo, hat dabei anscheinend noch rasch dein Schlafzimmer inspiziert und ziemlich laut beanstandet, das müsse man dringend renovieren.«
»Leider hat sie recht, aber es geht sie überhaupt nichts an, ob ich ein Doppelbett habe«, knurrte Ellen. »Und falls ich mal zu Geld komme, dann werde ich die saufende Innenarchitektin bestimmt nicht um Rat fragen.«
»Ist ja gut, Mädchen«, sagte Lydia. »In diesem Punkt sind wir uns einig. Zum Glück haben wir auch zwei Geschwister, über die man nicht viel meckern kann. Matthias und Christa sind so schön normal und bieder, dass sie uninteressant werden. Übrigens haben sie diesmal gar nicht mit ihren Wunderkindern angegeben.«
»Was mich jetzt mehr interessiert als Klatsch und Tratsch, ist die Frage nach der Ehe unserer Eltern und meinem leiblichen Vater«, sagte Ellen. »Wie kann es sein, dass Mutter uns all die Jahre keinen reinen Wein eingeschenkt hat? Warum leistet sich zuerst unser – vielmehr euer Vater – einen Seitensprung mit Folgen, dann zieht Mutter ein Jahr später nach? Aus purer Rache?«
»Möglicherweise war es sogar umgekehrt«, spekulierte Lydia. »Am Ende war unsere Mama ein echter Feger, und Papa hat sich bloß gerächt! Vielleicht hast nicht nur du einen anderen Vater, sondern jeder von uns!«
»Quatsch«, sagte Ellen. »Matthias sieht Papa so was von ähnlich; ihr drei anderen immerhin ein bisschen. Nur ich bin ein Kuckuckskind! Lydia, lass uns zu Bett gehen, wir werden dieses Rätsel heute nicht mehr lösen. Aber morgen knöpfe ich mir Mutter vor.«
10
Ellen legte sich viel zu früh ins Bett, weil ihr die überdrehte Schwester auf die Nerven fiel, konnte aber natürlich nicht einschlafen. Hatte ihr Vater – beziehungsweise der Vater ihrer Geschwister – geahnt, dass sie nicht seine Tochter war? Falls ja, dann hatte er das gut zu verbergen gewusst. Zwar war Lydia ihr immer als sein Liebling erschienen, aber wenn sie ehrlich war, hatte der Vater alle Kinder freundlich und weitgehend gerecht behandelt, falls er überhaupt anwesend war. Plötzlich überfiel sie eine neue Horrorvorstellung: Sollte ihre Mutter endlich mit der Wahrheit herausrücken, würden dann vielleicht außer einem neuen Vater auch weitere Halbgeschwister auftauchen, ganz ähnlich, wie es Gerd ergangen war? Kam zu Matthias, Christa, Holger und Lydia am Ende noch eine wildfremde Horde dazu?
Erst gegen Morgen schlief sie ein, wachte aber bereits um sieben wieder auf. Leise schlich sie die Treppe hinauf und schaute nach, ob Hildegard immer noch reglos auf dem Bett lag. Doch ihre Mutter hatte sich irgendwann die guten Sachen ausgezogen und bot ein friedliches Bild in ihrem blau geblümten Nachthemd. Auch sie hatte wohl wenig geschlafen, denn sie setzte sich sofort auf, als Ellen hereinkam.
»Guten Morgen, Mutter! Geht es dir ein bisschen besser?«
»Sind alle fort?«
»Lydia ist noch hier, aber sie will demnächst heimfahren. Ich bringe sie nachher nach Weinheim zur Bahn.«
Die alte Frau hustete mitleiderregend. – »Irgendwann musste es ja so kommen! Meine arme Kleine, ich weiß, dass du mit mir reden willst. Du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Wir warten nur noch, bis Lydia fort ist. Im Augenblick lass mich bitte allein, ich muss nachdenken.«
Hildegard drehte sich zur Wand, und Ellen verließ gehorsam das Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie wusste nicht genau, wie lange Lydia zu ruhen beliebte und wann Amalia aus Köln zurückkam. Ob sie ihren Töchtern sofort erzählen sollte, dass sie überhaupt keine Tunkels und ihre Ahnen großväterlicherseits unbekannt waren? Dass die renommierten Tunkeltücher, auf die ihre Mädchen wohl insgeheim stolz waren, gar nicht von ihren Vorfahren hergestellt worden
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