Über Bord
»Sollen wir jetzt lieber gehen? Wahrscheinlich willst du mit deiner Mutter unter vier Augen reden.«
»Lieber nicht«, sagte Ellen. »Dazu ist sie jetzt nicht in der Lage. Abgesehen davon wolltet ihr ja sowieso gegen sechs alle aufbrechen, das heißt, Lydia will bei uns übernachten. Sie kann in Amalias Zimmer schlafen.«
»Matthias und Gerd sehen sich unglaublich ähnlich, findest du nicht?«, fragte Brigitte. »Und wenn jetzt ein paar lang verheimlichte Wahrheiten ans Licht kommen, ist das letzten Endes ganz heilsam. Auch du hast ein Recht darauf, über deinen leiblichen Vater Bescheid zu wissen, da geht es dir nicht anders als Gerd. Ich selbst habe meinen Papa früh verloren; als er starb, war ich erst vier. Natürlich wüsste ich gern, was er für ein Mensch war und inwieweit ich nach ihm geraten bin.«
Die beiden gingen wieder in den Garten, wo sich Lydia und Holger anscheinend in die Wolle gekriegt hatten. Matthias und Gerd liefen gestikulierend und mit langen Schritten zwischen den Beeten auf und ab. Die Tischordnung hatte sich völlig aufgelöst.
Christa und Arno hatten Ortrud ein wenig aus dem Verkehr gezogen und ihr somit das Rauchen in einer abgeschiedenen Ecke ermöglicht; um die Angetrunkene zu stabilisieren, versuchten sie es mit Smalltalk. Zufällig sah Ellen, wie Ortrud gerade eine Zigarettenkippe auf einer Untertasse ausdrückte. Allerdings stand auch kein einziger Aschenbecher bereit. Also holte Ellen einen Blumentopf aus dem Schuppen und knallte ihn Ortrud vor die Nase.
Allmählich hatte sie sich so weit gefangen, dass sie die Garderobe der weiblichen Gäste genauer unter die Lupe nehmen konnte und dabei feststellte, dass ihr eigenes neues Seidenkleid das schickste war. Vielleicht hatte sie ja einen hochadligen Vater und war eine verzauberte Prinzessin unter all diesen Kröten. Derart getröstet, gesellte sie sich zu Holger und Lydia, die jedoch sofort verstummten.
»Stör ich?«, fragte Ellen. Holger verneinte und sagte: »Armes Halbschwesterherz, du tust mir wirklich sehr leid. Seltsamerweise hatte ich schon immer das Gefühl, dass du etwas ganz Besonderes bist. Du solltest jetzt nicht allzu traurig sein, sondern dich auf einen eigenen Papa freuen – wir anderen haben ja keinen mehr.«
Doch Lydia meinte: »Wir wissen nicht, ob der große Unbekannte noch lebt. Und falls ja, ob er überhaupt Wert darauf legt, seine Tochter kennenzulernen.«
»Vielleicht ahnt er gar nichts von meiner Existenz«, befürchtete Ellen. Das Gespräch verstummte, als Ortrud sich plötzlich vor Holger aufbaute. »Gibst du mir noch ein Schlückchen von deinem Whisky?«, bat sie. »Der schmeckt mir sehr viel besser als unser hausbackener Dornfelder!«
Holger schenkte ein, sie trank zügig aus und hielt ihr Glas zum zweiten Mal hin.
Irgendwie hatte Gerd die Szene vom hintersten Tomatenbeet aus beobachtet, war im Nu bei seiner Frau und entriss ihr das Glas zum zweiten Mal. »Wir gehen jetzt lieber«, sagte er.
In diesem Moment fing Lydia an zu weinen. Alle würden bloß von ihren Problemen reden, schluchzte sie, dabei sei sie am härtesten vom Schicksal getroffen. Niemand habe nach ihrer Tochter gefragt und welche Sorgen sie als Mutter eines behinderten Kindes habe. Gerd sah Holger und Ellen ratlos an.
Noch vor halb sechs brach man auf. Holger und Arno überreichten Gerd ihre Visitenkarten, er verteilte seine. Hildegard hatte sich nicht mehr blicken lassen, weswegen Ellen beauftragt wurde, die Mutter herzlich zu grüßen und ihr zu danken. Die Geschwister versprachen, bald anzurufen. Als alle schon in den Autos saßen, und Lydia und Ellen mit dem Aufräumen begannen, stellte Gerd den laufenden Motor wieder ab und stieg noch einmal aus.
»Ich habe ein ganz, ganz schlechtes Gewissen, weil ich unbeabsichtigt eine Lawine losgetreten habe«, sagte er zu Ellen. »In den nächsten Tagen werde ich mich melden, im Augenblick weiß ich beim besten Willen keinen Rat.«
Er umarmte sie herzlich, und Ellen wurde es heiß. Eigentlich gut, dass er nicht mein Bruder ist, dachte sie, denn er hat wirklich eine Lawine losgetreten.
»Müssen wir alle Stühle ins Haus schleppen?«, fragte Lydia gähnend.
»Nur die Kissen, falls es heute Nacht regnet«, sagte Ellen. »Wir sollten aber erst einmal nach Mutter schauen!«
Hildegard lag angezogen auf ihrem Bett und stellte sich tot. Offensichtlich hatte sie keine Lust, mit ihren Kindern zu sprechen. Die Schwestern deckten sie gut zu und gingen in die Küche. Beim Einräumen der
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